von Nele
In der U6, Haltestelle Westbahnhof, gegen 19.30 Uhr, rempelte mich ein junger Mann (ca. 180, rotes T-Shirt, blonde Haare) an. Ich verlor fast das Gleichgewicht, fluchte leise und stieg nach zwei Haltestellen aus. Beschwingt vom Tag, der schön gewesen war, wollte ich mir am Kiosk noch irgendwas Ungesundes kaufen. Daraus wurde nichts. Mein Portemonnaie war weg. Einfach weg, verschwunden aus meiner Tasche. Geld, Ausweis, Bankkarten, weg. Nur ein alter Gutschein für die Auto-Waschanlage ließ sich noch greifen. Ich konnte mich nicht darüber freuen.
Im Polizeikommissariat Josefstadt wurde der Fall „Verdacht des Diebstahls und Entfremdung unbarer Zahlungsmittel“ von Inspektor Andreas St. zur Niederschrift genommen. Ein Telefonat nach Deutschland, um meinen Freund um Hilfe zu bitten, hatte mir ein Oberinspektor verboten: Ferngespräch? Zu teuer!
So schlich ich mich ins Hotel (war schon bezahlt) setzte mit dem letzten Guthaben eine SMS an meinen Freund ab und wusste: Mein Zug (Ticket bezahlt) würde erst in zwei Tagen gehen. Mit hochrotem Kopf versuchte ich, mir im Hotel etwas Geld zu pumpen. Man hielt mich für eine Trickbetrügerin. In Dauerschleife versuchte ich, die deutsche Botschaft in Wien zu erreichen. Nur Anrufbeantworter. Die Botschaftsangehörigen schienen alle gemeinsam auf Betriebsausflug zu sein.
Eine mildtätige Seele aus der Küche schob mir eine Semmel und abgepackte Frühstücksleberwurst zu. Meine Überlebensreserve für zwei Tage. Kein Pfarrer weit und breit, dem ich mich hilfesuchend vor die Füße hätte werfen können. Ich brauchte dringend Geld. Mein Freund hatte über Western Union 200 Euro angewiesen. Western Union klang romantisch, nach Cowboyfilm. Doch auch mit vorgehaltener Pistole wäre ich abgeblitzt: kein Ausweis, keine Auszahlung.
Wien war grausam zu mir. Und ich wurde es auch. Fast hätte ich einem Kleinkind die versabberte Brezen entrissen. Ich schämte mich dafür. Meine Wiener Helden hießen nicht mehr Franz Schubert und Arthur Schnitzler, sondern fortan Franz Sacher und Anna Demel. Ich hatte mich verändert. Als ein Obdachloser mich um einen Euro bat, wieherte ich bitter auf.
Ich teilte mir den Proviant gut ein – eine Kaisersemmel lässt sich optimal teilen – , erlaubte mir nur dann und wann einen Hauch von Leberwurst und versuchte daran zu denken, dass man auch ohne feste Nahrung locker mehrere Wochen überleben kann. Der Tag der Rückreise kam näher. Ich lief durch die Stadt, sah überall Würstelbuden und schleppte mich in eine Polizeistation. Frage: „Wie soll ich ohne Geld zum Bahnhof kommen?“ Polizist: “Keine Ahnung!“ Hä? „Ohne Ticket gibt’s eine Geldstrafe!“
Ich tat es dennoch, ich fuhr schwarz mit der U-Bahn. Saß endlich im ICE nach Frankfurt. Ein Zugbegleiter kam den Gang entlang, fragte freundlich: “Kaffee? Sandwich?” Ich habe ihn gehasst!
P.S: Die besten Spaghetti aller Zeiten gibt es zu Hause nach einem hundsgemeinen Taschendiebstahl in der U6 am Wiener Westbahnhof.
…
© Nele 2021-05-30