Von Politikclowns und Simulanten

Sebastian SchÀffer

von Sebastian SchÀffer

Story
2019

Ich biege vom Chreschtschatyk links auf den Majdan ab und gehe in Richtung Mychajliwska ploschtscha zu dem GebĂ€ude, in dem ich eines meiner ersten Seminare fĂŒr das IDM mitorganisiert habe. Damals – im Dezember 2014 – konnte ich die Spuren des Euromaidan nur noch erahnen, die ein halbes Jahr vorher noch in aller Deutlichkeit sichtbar waren. Dort wo ich im Juni 2014 den Platz aufgrund der Barrikaden nicht ĂŒberqueren konnte, spielt 2019 Musik synchron zu WasserfontĂ€nen.

Statt bei einer MetroverkĂ€uferin habe ich mein Ticket mit dem Mobiltelefon gezahlt, ein starker Kontrast zum sowjetischen Klassizismus, der mich umgibt. Zwei Tage werde ich an der Diplomatischen Akademie Kyjiw ein Seminar fĂŒr Mitarbeiter*innen des ukrainischen Außenministeriums zu europĂ€ischen Entscheidungsfindungsprozessen leiten.

Zwei Tage danach wird die Ukraine mit rund 70% der abgegebenen Stimmen Wolodymyr Selenskyj zum neuen PrĂ€sidenten wĂ€hlen. WĂ€hrend des Seminars findet vor der Fensterfront des Raumes eine Demonstration statt. Es ist mir unklar, wofĂŒr oder wogegen sie sich richtet, und wĂ€hrend wir bei der Simulation des Rates der EU eine Einigung ĂŒber die EinfĂŒhrung einer Finanztransaktionssteuer erzielen, löst sich die Gruppe auf und der Lautsprecherwagen verschwindet in Richtung Podil.

Am Ende des Seminars kommt die Wahl unweigerlich zur Sprache, schließlich steht in zwei Stunden die große Stadiondebatte zwischen Petro Poroschenko und seinem Herausforderer an. Wer wird neu gewĂ€hlter PrĂ€sident der Ukraine?

Es ist nicht verwunderlich, dass die Teilnehmenden Selenskyj skeptisch gegenĂŒberstehen, schließlich hat der ukrainische PrĂ€sident das Recht eine*n Kandidat*in fĂŒr das Außenministerium vorzuschlagen, und hier wĂ€re dann wohl eher die Unsicherheit, die eine VerĂ€nderung mit sich bringt, der Grund fĂŒr eine mögliche Bevorzugung einer zweiten Amtszeit Poroschenkos.

Ich nutze die verbleibende Zeit in Kyjiw, um mich mit einigen Teilnehmenden meiner frĂŒheren Seminare zu treffen und auch dabei reden wir ĂŒber den anstehenden Urnengang. Auch beim GesprĂ€ch mit den Kooperationspartner*innen einer Initiative zur Entwicklung von Zukunftsszenarien fĂŒr die Region, die wir im Herbst des Jahres in Tscherniwzi umgesetzt haben, setzt sich der grundsĂ€tzliche Tenor fort: Poroschenko hat viele Fehler gemacht und vereinzelt besteht auch die Meinung, dass sich mit Selenskyj vielleicht tatsĂ€chlich neue Möglichkeiten zur Lösung der vielen Konflikte auftun könnten. Allerdings ĂŒberwiegen die Zweifel an der Eignung und den Motiven des Schauspielers.

Am Wahltag bin ich bereits in Chißinău angekommen. Die Eilmeldung ĂŒber den Ausgang erreicht mich auf meinem Handy und ĂŒberrascht nicht nur mich in seiner Deutlichkeit. Auch die ukrainischen Teilnehmenden unseres Seminars sind nicht begeisterte AnhĂ€nger*innen Poroschenkos, verbinden aber eine große Unsicherheit mit Selenskyj.

Manche EinschÀtzungen altern eben wie Milch.

© Sebastian SchÀffer 2023-02-08

Genres
Romane & ErzÀhlungen
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