Vor langer, langer Zeit …

Christin Spalek

von Christin Spalek

Story

Irgendwo in den wilden Wäldern Mexikos saßen eine große und eine kleine Fledermaus in einer Baumhöhle. Die kleine Fledermaus saugte an einer Maus. Die große Fledermaus schaute ihr dabei zu.
Irgendwann leckte die kleine Fledermaus sich das Blut von den Lippen und fragte: „Onkel Spießblattnase? Erzählst du mir noch einmal die Geschichte?“
Die große Fledermaus sah sie an. „Ach, du meinst die Geschichte. Nun gut.“ Beide hängten sich kopfüber an die Rinde des Baumes. Die große Fledermaus legte ihre Flügel um die kleine und begann zu erzählen: „Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein Fledermäuserich mit einer Nase, so groß wie ein Blatt. Es gab viele verschiedene Arten von Fledermäusen in den mexikanischen Wäldern. Er gehörte zu den allergrößten. Eines Tages bei der Mäusejagd hörte er einen Knall, der die Erde erschütterte. Was mochte das sein? Er musste es herausfinden! So stürzte der Fledermäuserich sich in die Lüfte. Seine mächtigen Schwingen trugen ihn rasch vorwärts. Die Sonne erhob sich bereits. Es wäre längst Zeit umzukehren, doch er flog weiter bis er eine Höhle fand. Das heißt eigentlich sagte ihm nur sein Gefühl, dass da eine war. Zu sehen war nur eine Staubwolke. Felsbrocken stürzten herab. Gerade noch rechtzeitig konnte er einem davon ausweichen. Das konnte nur das Werk von Vampirfängern sein. Hatten sich noch Vampire in der Höhle versteckt? Es war kein Zeichen zu erkennen. Wahrscheinlich waren sie alle vertrieben oder gefangen. Der Fledermäuserich wollte schon wieder umdrehen. Da vernahmen seine Ohren ein mattes Fiepen. Ohne zu zögern brach er durch den Staub und den Qualm, bahnte sich einen Weg zwischen Gesteinsbrocken hindurch. Bis ihn aus dem letzten Winkel der Höhle eine kleine Vampirfledermaus mit großen Augen anschaute. In diesem Moment begann die Höhlendecke sich zu bewegen. Es blieb keine Zeit mehr. Der Fledermäuserich hob die Kleine so sanft wie möglich auf. Er spürte sie kaum in seinen mächtigen Klauen. Dann erhob er sich in die Lüfte. Gestein regnete auf ihn herab, doch er dachte nur an die Kleine, schirmte sie mit seinen Flügeln ab. Am Eingang prallte ihm die Sonne heftig ins Gesicht. Zum Glück fand er seine Baumhöhle auch blind. Als er die kleine Vampirfledermaus endlich darin ablegte, war sie hungrig und zitterte wie trockenes Laub im Wind. Er gab ihr vom Blut einer Maus zu trinken. Selbst aß er lieber die Maus im Ganzen auf. Er war schließlich kein Vampir. Doch in diesem Moment wurde aus dem alten Fledermäuserich Onkel Spießblattnase. Noch nie hatte man etwas von einer Spießblattnasen-Fledermaus gehört, die einen Vampir aufzog. Sie waren ziemlich verschieden. Trotzdem teilten sich die beiden fortan glücklich und zufrieden seine Baumhöhle. Und der Name der kleinen Vampirfledermaus war Nox.“
Die kleine Fledermaus lächelte. „Onkel Spießblattnase? Das ist die beste Geschichte von allen!“ Die große Fledermaus nickte. „Mir gefällt sie auch am besten, Nox. Weißt du, das Leben ist voller Geschichten. Jeden Tag gehen Geschichten weiter oder enden und neue beginnen. Doch nur du allein kannst herausfinden, wie deine eigene Geschichte weitergeht und wo sie dich hinführt.“ Nox merkte sich diese Worte gut. Während dessen ging die Geschichte der beiden weiter. Nox wurde alt genug, eine eigene Baumhöhle zu haben. Onkel Spießblattnase aber musste die wilden Wälder für eine Weile verlassen. So begann für Nox eine neue Geschichte …

© Christin Spalek 2023-08-28

Genres
Romane & Erzählungen