von Rebecca Borde
Die beste Zeit des Tages ist, wenn alle anderen noch schlafen. Ich meine nicht SCHON schlafen, sondern NOCH schlafen. Oder zumindest gefällt mir die Zeit, wenn nur wenige bereits wach sind. Ich verlasse das Haus regelmäßig um sechs Uhr, um meinem Alltag nachzugehen. Ich gehe zu Fuß, weil ich kein Auto habe, und inhaliere die frische Morgenluft. In meinem Kopf höre ich noch die Stimmen meiner Bekannten: „Wieso stehst du denn so früh auf? Hast du Fieber? Das ist doch nicht normal.“ Sie verstehen das nicht. Und ich kann mir nicht erklären, wieso sie beinahe aggressiv werden mit ihren ständigen Fragen, auf die ich sowieso schwer eine Antwort geben kann. Sie haben es ja nie selbst erlebt und kennen die Magie eines Morgens vor Sonnenaufgang nicht. Für sie beginnt der Morgen mit dem Sonnenaufgang.
Auf meinem Weg gehe ich durch eine Familiensiedlung. Es sind viele kleine Doppelhaushälften mit Garagen und winzigen Vorgärten. In einigen Häusern brennt schon Licht. Frauen in Morgenmänteln greifen verschlafen nach Tassen, die in einem viel zu hohen Hängeschrank darauf warten, mit heißem Kaffee befüllt zu werden. Ich stelle mir vor, wie ihre Kinder mit halb geschlossenen Augen wie kleine Zombies die Treppe herunterschlurfen – ganz anders als sie es samstags tun, wenn sie frei haben und voller Elan sind. Ich stelle mir vor, wie ein Mädchen von oben herunterruft, wo ihr rosafarbener Pulli sei und der Familienhund nach seinem Frühstück verlangt. Der Vater würde seine Zeitung lesen, während er noch auf den Kaffee seiner Frau wartet, und sie würde alle versorgen, die Kinder zur Schule fahren und mit dem Hund eine Runde gehen.
Eine Straße weiter kommt mir die Müllabfuhr entgegen. Sie sammelt den Plastikmüll ein und ich betrachte das große Müllauto eine Weile. Mit seinem riesigen Arm greift es eine Mülltonne nach der anderen. Damit erinnert es mich an ein großes metallisches Tier, das in der Natur nach Essen sucht und sein Hauptnahrungsmittel Plastik schließlich findet, um es gierig in sich hineinzuschütten.
Dann kommt mir zum ersten Mal an diesem Morgen ein Mensch entgegen. Er ist allein, trägt Kopfhörer und hat keine Tasche dabei. Wer weiß, wohin ihn sein Weg führt, ob er schon oder immer noch wach ist. Wir sprechen kein Wort, grüßen einander nicht und gehen stumm vorbei. Lediglich die Existenz des anderen haben wir akzeptiert. Mir kommt ein Gedicht von Kurt Tucholsky in den Sinn: „Was war das? Vielleicht dein Lebensglück … vorbei, verweht, nie wieder.“ Ich lächele bei diesem Gedanken. Er war einfach ein Fremder und ich schenke ihm bereits mehr Gedanken, als er je an mich verschwenden wird. Aber wer weiß, vielleicht war er mein Lebensglück, mein Seelenverwandter. Vielleicht ist er derjenige, mit dem ich Seite an Seite kämpfen müsste, wenn jetzt Krieg wäre. Aber das werde ich wohl nie erfahren. Wie hieß das Gedicht noch gleich? Ich erinnere mich nicht. Dann komme ich auch schon bei meinem Ziel an, verwerfe den Gedanken und die Sonne beginnt aufzugehen.
© Rebecca Borde 2022-01-27