Vorher – nachher

gnissel

von gnissel

Story

Gestern war da noch nichts. Heute sackt plötzlich unter dem Kinn eine faltige Matte hervor, als würde die Erde an dieser Stelle ihre Anziehungskraft besonders beweisen wollen. Wenn ich die verknitterte Wölbung nach hinten ziehe in Richtung Ohren, sieht alles wieder ganz glatt aus. Aber wohin mit dem Überflüssigen?

„Ich kann dir meinen Schönheitschirurgen empfehlen“, offenbart sich Sabine, meine Freundin. „Sieh mich an, siehst du noch etwas von diesem Gehänge an meinem Hals?” Von dem nicht mehr denke ich, aber die Kräuselfalten über deiner Oberlippe hast du immer noch.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagt sie „Komm doch mal mit nächste Woche. Da treffen wir uns zum gemeinsamen Botox-Spritzen.” Ich sehe sie ungläubig an.

„Wenn man damit erst anfängt, bleibt es nicht bei einem Mal”, halte ich dagegen. „Bleibt es auch nicht”, sagt Sabine fröhlich, „wir treffen uns regelmäßig. Es sind interessante Frauen. Du würdest sie mögen. Eine Ärztin ist dabei. Wir trinken Champagner und lassen es uns gut gehen.”

„Aber es ist nicht nur der Hals oder die Oberlippe, auch die Stirn, die Augenlider, es ist ein Fass ohne Boden“, sage ich. „Das Alter lässt sich doch einfach nicht aufhalten! Wir sollten das akzeptieren.” Aber Sabine ist taub fĂĽr meine Einwände. „Du glaubst gar nicht, wie selbstbewusst das macht”, zwitschert sie.

„Sind das nicht unnötige riskante Eingriffe?”, versuche ich zu ihr durchzudringen. Doch Sabine redet weiter, als hätte sie eine Mission zu erfüllen. „Zum Zahnarzt gehst du doch auch und wartest nicht darauf, dass dir die Zähne ausfallen. Dass man an verborgenen Organen operiert, daran haben wir uns längst gewöhnt. Gegen eine Herz- und Nierentransplantation hättest du sicher nichts einzuwenden. Aber wenn das Chirurgenmesser etwas am Äußeren verbessern soll, etwas, was man sehen kann, macht das Angst.”

„Soll das heißen, dass wir uns demnächst ein junges Gesicht transplantieren lassen können?”, sage ich aufgebracht. Und sie kontert: „Das gibt es doch schon längst. Schnarch du nur weiter!”

Ist Sabine ĂĽberhaupt noch meine Freundin? Ich wĂĽrde sie ohnehin bald nicht mehr wiedererkennen.

Aber eins hat sie erreicht. Jetzt denke ich noch mehr über meinen eigenen Verfall nach und vermute hinter jedem jung gebliebenen Gesicht eine Schönheitsoperation, hinter jeder fülligen Frisur eine Haartransplantation. Was wäre, wenn ich wirklich etwas versäumte? Wenn nur ich langsam vergreiste, weil ich die Errungenschaften unserer Zivilisation so verschmähte?

Da entdecke ich eine Zeitungsmeldung. Zum ersten Mal ist es einem Neurochirurgen in den USA gelungen, einen Kopf zu transplantieren und dabei kurzzeitig das damit auftretende Problem der Querschnittslähmung auszuschalten. Ein Meilenstein nach zehn Jahren!

Plötzlich wird mir klar, was ich tun muss. Ich muss nur noch abwarten. Von wegen verschnarcht.

Und wer lacht da wohl zuletzt Sabine, w e r ?

© gnissel 2022-07-30

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