von Helga M. Stadler
Mit jedem einzelnen Schritt, jedem Straßennamen, an jeder Hausecke drängen sich Erinnerungsfetzten auf und verschwinden. Vertraut und doch fremd, neuartig – denke ich mir, als ich langsam über den Margaretenplatz in Richtung Filmcasino schlendere.
Von weitem schon sehe ich meine Tochter und ihre Freunde vor dem Architektur- und Kinojuwel aus den 1950ern stehen und mir zuwinken. Gemeinsam werden wir in das nicht unumstrittene Lebenswerk – in „The Bad and the Beautiful“ – des Starfotografen Helmut Newton eintauchen, der mit seinen provozierenden Nacktaufnahmen die internationale Mode-, Werbe- und Akt-Fotografie des 20. Jahrhunderts geprägt hat.
Wie der Film eine Lebensrückschau darstellt, switche auch ich gedanklich in meine persönliche Vergangenheit zurück und sehe mich als jüngere Ausgabe meines Selbst, als Endzwanzigerin, unbekümmert und leichtfüßig über exakt dieselben Pflastersteine vorbeilaufen.
Zukunfts- und Lebenshunger im Gepäck, desillusioniert vom Erwachsensein, so betrat ich eines Sommertages diese schmucklose Neubauwohnung, die mir die nächsten Jahre als Kokon zur Selbstfindung dienen sollte. Mit Blick auf den wunderschönen Margaretenplatz und dessen Herzstück, dem Margaretenhof, diese große Wohnhausanlage im Späthistorismus mit den auffälligen Holzveranden.
Dass sich zu Hause fühlen, fiel mir anfangs schwer, war doch die neue Gegend, die Wohnung selbst, exakt das Gegenteil meiner ersten Bleibe in Wien. Hieß es bis vor kurzem noch ruhiger Altbau, grüner Innenhof, Lage am Arenbergpark, fand ich mich nun in einem urbanen, etwas grauen, aber auch lebendigen Grätzel wieder. Und erstmals allein.
Nach einigen Monaten der inneren Lähmung, entschlüpfte ich zögerlich meinem Kokon. Und fühlte mich wachgeküsst. Mit jedem Stück Möbel, das ich weggab, entledigte ich mich auch einem Stück meiner Vergangenheit. Erst als die Räume wieder jungfräulich weiß und leer erstrahlten, fühlte ich mich befreit. Von der Last der vergangenen Beziehung, der Last der schlechten Kompromisse, der Last der ermahnenden Eltern. Das erste Mal in meinem Leben machte ich das, was ich wirklich wollte – eine wilde Sturm- und Drangphase begann.
Das Grätzel im Fünften, das damals noch im Dornröschenschlaf lag, mit all seinen Verführungen, war idealer Ausgangspunkt für meine ausgedehnten Streifzüge. Egal, ob kleine Boutiquen, Design- und Delikatessgeschäfte, Bars und Clubs oder der nahe Naschmarkt, alles in Geh-Nähe und überaus verlockend.
Männer kamen und gingen, Möbel- und Designstücke kamen und blieben …
Als wir nach 90 Minuten wieder ins Freie und die Welt draußen treten, lade ich alle spontan zu einem kleinen Spaziergang vor Ort ein und erzähle so manch amüsante Episode, die mir hier widerfahren ist. Meiner Tochter zeige ich unsere alte Wohnung im „blauen Haus“, an die sie keine Erinnerung mehr hat. Als wir sie damals gemeinsam verließen, begann ein neuer Lebensabschnitt, in einem anderen Stück Wien.
© Helga M. Stadler 2020-10-02