von Amina Welt
Meine Mutti. Wenn ich in den Spiegel sehe, entdecke ich viel von ihr. Auch wenn ich tiefer grabe. Oft höre ich: Du erinnerst mich an deine Mutter. Es gibt ein Foto. Ich dachte, ich wäre das.
Sie lacht und redet viel. Etwas durcheinander. Sie sagt mir, wie lieb sie mich hat und dass ich immer ihre bleiben werde. Ich fühle mich aufrichtig geliebt, weil man sich um mich streitet. Meine Großmutter wollte mich ohne ihres Wissens adoptieren, und meinem Vater wurde aus maßgeblichen Sicherheitsgründen verwehrt, mich zu sehen. So fühlt sich für mich aufrichtige Liebe an. Wenn sie dich zu etwas Besonderem machen. Einer unerreichbaren Trophäe. Das heißt für mich: Wenn ich außergewöhnlich bin, werde ich geliebt. Wenn sich Menschen um mich streiten, werde ich geliebt. Wenn ich Ungewöhnliches leiste, bleibe ich etwas Besonderes und werde geliebt.
Wir sind zu Hause angekommen und das mit dem Schlüssel in`s Schlüsselloch will nicht so recht klappen. Ich mach das schon. Ich liebe es, wenn sie mich braucht. Früh erwachsen zu handeln, macht mich zu etwas Besonderem. Und dann werde ich….Liebe bedeutet für mich, gebraucht zu werden. Verrückt. Dann fühle ich mich unersetzbar und aufrichtig geliebt. So erledigt. Aufgaben zu meistern und stetig über meine Grenzen hinaus zu wachsen, machen mich zu etwas Besonderem. Zu jemanden, den man einfach lieben muss. Sie entschuldigt sich bei mir. Ich helfe ihr die Schuhe auszuziehen. Das ist schwierig. Es sind Stiefel und sie sind eng. So eng, dass ich viel Kraft aufwende und im Kinderzimmer gegenüber lande. Wir lachen beide. Was wir früher gelacht haben. Meine Mutti geht auf die Toilette, und ich rieche und höre, wie sie bricht. Ich gehe rein und stelle mich schräg neben sie, um ihr den Rücken zu streicheln und ihr dennoch Raum zu geben. Das ist angenehm, wenn man bricht. Ich mag das auch, wenn sie das bei mir macht. Dazwischen lasse ich, wie sie es auch immer bei mir macht, wenn ich nachts erbrechen muss, runter. Dann geht der Geruch schneller weg und es wird einem nicht gleich wieder schlecht. Wir haben Übung. Ich erbreche häufig mehrmals nachts aus dem Schlaf heraus. Vor Aufregung. Auch meine Mutti erbricht immer wieder. Niemand außer mir kann sich so um sie kümmern. Und das will ich nicht. Das lasse ich gar nicht zu. Das ist meine Mama. Wir sind ein Team und wir brauchen uns. Und auf ein Neues: “Du wirst geliebt, wenn du gebraucht wirst.” Oder wenn du etwas ganz besonders besser kannst als alle anderen. Das erscheint mir logisch und klar . Glaubenssätze, welche das Fundament für Selbstzweifel bilden. Zu ihnen gesellten sich: Du bist zu jung. Du bist zu dick. Du bist zu dünn. Du bist zu laut. Du bist zu neugierig. Du bist zu anders. Du bist nicht wie wir. Du bist zu intelligent . Du bist zu alt. Du bist zu wenig. Du bist zu viel. Du bist noch nicht. Du bist zu viel weg. Du bist zu Deutsch. Du bist zu Österreichisch. Du bist zu ausländisch: Ändere nach 30 Jahren deinen Vornamen. Du bist zu pubertär. Du bist zu sehr Mädchen. Du bist zu sehr Frau.
© Amina Welt 2022-05-05