Während wir warten

Jürgen Artmann

von Jürgen Artmann

Story

Ich kann mich gut erinnern, wie ich im Spaß einmal gemeint hatte, dass Fred wahrscheinlich nicht an einem natürlichen Tod sterben würde. Dass es schlimm enden würde, hatte jeder ahnen können, der Fred gekannt hatte. Zu viel Alkohol, zu viel Kokain, dazu die Fettleibigkeit und unregelmäßige Einkünfte. Seine IT-Firma war nie richtig zum Fliegen gekommen.

Die Nachricht von seinem Unfall elektrisierte uns alle. Seine Mutter schrieb nur wirres Zeug per WhatsApp, aber ich fand schnell Artikel online, die von seinem Sturz mit dem Elektroroller berichteten: Zwölf Meter sei Fred durch die Luft geflogen und dann unglücklich auf dem Kopf gelandet. Ohne Helm. Wiederbelebung noch am Unfallort. Abtransport mit dem Rettungshubschrauber. Überlebenschancen unklar.

„Er hat schwere Kopfverletzungen und zeigt keine Reaktionen. Er bleibt ab dem Halswirbel querschnittsgelähmt. Ohne Maschine kann er nicht atmen. Wir könnten sie ausschalten und Gott den Rest machen lassen“, fasste einer der behandelnden Ärzte Freds Zustand zusammen.

Während wir warten, ob er doch aus dem Koma erwacht, denke ich an ein Essen mit Fred zurück. Vier riesige Steaks hatten wir kommen lassen. Alle aus unterschiedlichen Regionen und von unterschiedlichen Rinderrassen. Jeder achthundert Gramm. Dazu als Alibi einen Beilagensalat. Zum Verdauen einen venezuelischen Rum.

„Die Mutter ist für das Abschalten der Maschinen. Aber sie ist verwirrt“, schreibt ein Freund. Es war ihr Geburtstag gewesen, an dessen Abend Fred mit dem Roller so viel Pech gehabt hatte. Wie wird sie ihre kommenden Geburtstage feiern?

„Seine Frau ist noch gegen die Abschaltung. Sie will die Mediziner erst fragen, welche Alternativen es gibt.“

Herr über Leben und Tod, sagt man doch. Jetzt sind es zwei Frauen, die über Leben und Tod entscheiden müssen. Doch was für ein Leben kann das werden?

Ich erinnere mich an Freds Jubeln, als er einmal einen ganz großen Auftrag an Land gezogen hatte. Manchmal hatte auch Fred Glück gehabt. Aber eher selten.

„Selbst wenn er aufwacht, wird er nicht mehr ohne Hilfe schlucken können“, schreibt ein anderer Freund. Woher er das weiß, sagt er aber nicht.

„Wann ist die Beerdigung?“, fragt der nächste Freund im Messenger. Ich finde es bizarr, die Beerdigung zu planen, wenn derjenige noch gar nicht tot ist. Es ist, als säße er in Isolationshaft, so wie ein zum Tode verurteilter Straftäter, nur durch das Koma abgeschottet.

„Ich war noch bei ihm im Zimmer und habe ihm eins seiner Lieblingslieder vorgespielt“, schreibt ein weiterer. Es gibt Studien, die nachweisen, dass Koma-Patienten hören können. „Ein Auge war geschlossen, das andere ganz leblos.“

„Seine Frau hat sich entschieden, die Maschinen heute abschalten zu lassen.“

Nun warte ich angespannt, sehe stündlich auf meine Nachrichten. Der venezuelische Rum steht schon auf dem Tisch. Ich öffne ihn, wenn die Nachricht kommt, und trinke auf Fred. Ich habe einen ungekannten Wunsch für ihn.

© Jürgen Artmann 2022-07-14

Hashtags