Wahrheit

Die Wahrheit lag verpackt in einem kleinen, weißen Karton mit roter Schleife auf Ninas Fußmatte.

Völlig verwirrt, linste Nina zu ihr hinunter.

Es war ein normaler Morgen gewesen. Eigentlich. So ein „Täglich grüßt das Murmeltier“-Morgen. Aufstehen, Zähneputzen, Kaffee, Duschen, Frühstück. Und dann: Ab ins Großraumbüro, mit der immer gleichen Buslinie, Arbeiten mit den immer gleichen Kolleg:innen und den immer gleichen Abläufen. Alles war immer gleich.

Aber offenbar machten auch Murmeltiere Urlaub.

Das zumindest wäre eine Erklärung dafür, dass Ninas Morgenroutine heute abrupt hinter dem Punkt „Duschen“ geendet hatte. Gekleidet in einen rosa Bademantel, die Haare zu einem triefenden Knoten gebunden, die Füße in Häschenschuhen war sie in die Küche geschlurft, als sie einen weißen Zettel auf ihrem schwarzen Tresen erblickt hatte. „Vor deiner Tür liegt die Wahrheit. Die Antwort auf alle Fragen. Gebrauche sie weise“, stand darauf in krakeliger Handschrift geschrieben. Und plötzlich war alles anders. Ihre Wohnung war winzig. Durch ihre offene Badezimmertür hatte sie die Küche immer im Blick gehabt. Niemand konnte hier gewesen sein.

Nina war sich sicher, in einen komplett verrückten Traum gefangen zu sein, als sie die Tür öffnete, und das kleine, weiße Paket mit der roten Schleife sah. Wer verpackte die Wahrheit denn mit einer roten Schleife? Wer verpackte überhaupt die Wahrheit?

Vorsichtig, als könnte es jederzeit explodieren, hob Nina das Päckchen langsam an. Es war leicht. Fast leichter als eine Feder und aus ihm heraus drangen Stimmen. „Deine Mutter mochte Niklas nie. Die Fahrerin der 990 trinkt vor der Arbeit. Der …“ Erschrocken schleuderte Nina das Paket weg. Dass ihre Mutter ihren Ex-Freund nie gemocht hatte, war Nina immer klar gewesen. Auch dass der Atem der seltsamen Busfahrerin nicht wegen Menthol-Bonbons so streng roch, war keine Überraschung. Aber Nina hatte Angst davor, dass das Paket weitersprach. Was würde es ihr alles anvertrauen?

Gab es Gott? Wo ist der Sinn des Lebens? Was passiert mit uns nach dem Tod? Können wir den Klimawandel noch aufhalten? Gibt es außer uns Lebewesen im All? Und was war wirklich zwischen Niklas und seiner angeblich besten Freundin gelaufen?

Fragen über Fragen, kamen Nina in den Sinn, und je mehr sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie die Antworten darauf nicht hören wollte. Allumfassende Wahrheit schien ihr keine verlockende Aussicht zu sein. Zu sicher war sie sich, dass der Preis hierfür absolute Einsamkeit wäre.

Ein letztes Mal musterte sie das Paket in ihrem Flur, ehe sie es entschlossen die Treppe runter kickte. Sollte sich jemand anderes der Wahrheit stellen.

Nina würde zur Arbeit fahren. So wie immer. Nur ihren üblichen Bus hatte sie verpasst.