Wahrheit, die – Feminin (2)

Helga M. Stadler

von Helga M. Stadler

Story

Ja, sie fühlte sich nach langem endlich wieder frei. Bis besagten Abend …

Ein verlängertes Wochenende stand vor der Tür, es war der Abend vor einem Mai-Feiertag, und sie hatten einen Kurztrip nach Triest geplant. Wie so oft in ihrer langjährigen Beziehung, die auf einer tiefen Freundschaft basierte. Regelmäßig nahmen sie sich eine kleine Auszeit, um die Batterien aufzufüllen, das Gehirn frei zu bekommen, aber auch, um sich im Alltag der Nebensächlichkeiten nicht aus den Augen zu verlieren oder einfach, um zu genießen.

… Paul völlig aufgelöst nachhause kam. Was ihr sofort auffiel, am linken Zeigefinger fehlte sein Freundschaftsring. Gleich zu Beginn ihrer aufkeimenden Liebe hatten sie ein Paar identer Ringe als Zeichen der Verbundenheit anfertigen lassen. Er faselte etwas von einem alten Schulfreund, der dringend seine Hilfe benötige und dass er deshalb die nächsten Tage verreisen müsste. Sagte es, packte seine Tasche, gab ihr einen Abschiedskuss und war weg. Und sie solle sich keine Sorgen machen. Die Worte hallten noch lange in ihr nach, als er schon längst die Türe hinter sich zugezogen hatte. Was sie aber tat. Auf ihre Anrufe oder Nachrichten reagierte er nicht. Er blieb unerreichbar. Bis er knapp eine Woche später, wie aus dem Nichts, wieder auftauchte, bestens gelaunt und so tat, als ob es völlig normal wäre, für einige Tage unterzutauchen. Auf ihre zaghaften Fragen reagierte er ausweichend und lud sie als Versöhnung in ihr japanisches Lieblingslokal ein. Der Ring an seinem Finger blieb verschwunden. Sie tat, als ob sie es nicht sähe.

Was er nicht wusste, dass sie es wusste.

96 Stunden davor hatte sie eine völlig hysterische Sprachnachricht ihrer Freundin Anni erreicht, die ihrerseits eine verstörende Nachricht von einer Kollegin, einer befreundeten Gynäkologin, erhielt. Sie, die Frauenärztin, hätte besagten Paul mit einer jungen, hochschwangeren Frau in der Geburtsklinik, in der sie manchmal Patientinnen versorgte, von weitem auf dem Gang auf und ab gehen gesehen. Verwechslung ausgeschlossen. Tags darauf war die Frau samt einem Baby verschwunden.

Ein Baby. Das war ihr, ihnen beiden, versagt geblieben. Als sie für eine Mutterschaft, wenn auch eine späte, mehr als bereit gewesen war, war es die Natur nicht mehr. Das alles war lange her, längst abgehakt.

Jetzt ergab alles Sinn. Sie war erleichtert, trotz allem, einen endgültigen Schlussstrich nach den letzten aufwühlenden Wochen und Monaten ziehen zu können. Längst hatte sie einen Teil ihrer Sachen aus seiner Wohnung – sie hatte diese ohne sein Zutun und nach ihrem Geschmack liebe- und stilvoll eingerichtet – gepackt und in ihre gebracht. Dass sie es nie übers Herz brachte, ihre wunderschöne Altbauwohnung über all die Jahre aufzugeben, Paul fand es immer pure Geldverschwendung und reine Sentimentalität, kam ihr jetzt zugute. Sie sperrte ihr altes Appartement auf, trat hinein und in ihr neues Leben. Die Ruhe in ihrem Inneren war zurück. Und sollte bleiben.

© Helga M. Stadler 2022-05-06

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