Wahrnehmung – Sie haben was auf der Wade.

Franz Brunner

von Franz Brunner

Story

Nein, ich warne niemanden vor einem gefĂ€hrlichen Tier und es geht auch um keinen Schönheitsfehler, mich interessieren neuerdings einfach Waden. Ich habe sie zumindest fĂŒr einen Tag ins Zentrum meiner Wahrnehmung gestellt. Und das zahlt sich aus, da gibt’s ordentlich was zu sehen. Allerdings nur im europĂ€ischen Sommer – oder wenn man zur Winterzeit im sonnigen SĂŒden weilen darf und am Strand spazieren geht. Aufmerksam und bereit, sich fĂŒr einen Text inspirieren zu lassen.

Da kĂ€mpft sich gerade ein Riesenschmetterling aus der Brustbehaarung eines blassen EnglĂ€nders. Woher ich weiß, dass er EnglĂ€nder ist? Weil er auf dem linken Schulterblatt seine Liebe zu Manchester United kundtut und auf der rechten Wade ein Portrait von Lady Di prangt. Kein Zweifel, ein heimatliebender Brite.

Ja, auf den Waden der Mitmenschen, da gibt’s großartige Kunstwerke zu sehen. Auf der linken Wade umarmt Winnetou seinen Blutsbruder Old Shatterhand, wĂ€hrend auf dem linken GegenstĂŒck die Jungfrau Maria selig aus ihrem Heiligenschein lĂ€chelt. Derweilen ich weiter in den seichten Meereswellen dahin wate, erspĂ€he ich einen Totenkopf, dessen grimmiger Eindruck mich davon abhĂ€lt, den Besitzer der Wade nach dem Zustandekommen dieser Idee zu fragen. Man macht das nicht, noch dazu, wenn von der Schulter des Mannes eine Armbrust auf einen gerichtet ist. Ich werde mich hĂŒten, mir ist meine Gesundheit was wert.

Doch auch abseits vom Strand gibt’s interessante Waden und andere Körperteile zu analysieren. Yvonne z. B., eine adrette und sympathische Blondine aus der Wandergruppe, die trĂ€gt ein dezentes, geheimnisvolles Zick-Zack-Muster oberhalb der rechten Ferse, gerade nicht mehr von der Socke verdeckt. Ich rĂ€tsle: ein Strickmuster, ein Haifischgebiss oder ein Gruß in sumerischer Keilschrift? Wir kamen ins Plaudern, ich attestierte ihr Friedfertigkeit und wagte es schließlich, sie nach der Bedeutung des Tattoos zu fragen.

Sie sei unheilbar bergaffin und das ist der Watzmann mit seinen Gipfeln, gab sie mir zu verstehen. Als Erinnerung an eine einzigartige Wanderung mit Freunden, die sich allesamt dasselbe Muster an derselben Stelle verpassen ließen. Frech erkundigte ich mich nach einer weiteren Figur an der RĂŒckseite von Yvonnes linkem Oberarm. Ich wagte nicht, meine Vermutung kundzutun, lag aber zu meiner Überraschung völlig richtig: Eine vergnĂŒgt tanzende Kartoffel lĂ€chelte mich an. Eine einfache Figur, doch in ihrer Klarheit und Freude unverkennbar. „Warum das denn?“, wollte ich wissen. Noch zögerte die Kartoffelfreundin, rĂŒckte dann aber doch mit der ErklĂ€rung raus: „Mallorca! GenĂŒgt das?“ Sie grinste mich schelmisch an, es bedurfte keiner weiteren Worte. Mallorca eben, am Ende einer durchtanzten Nacht, selbst gezeichnet und dann ab zum Meister. Schmerzen? Preis? ErinnerungslĂŒcken, meinte sie.

Mit der Erkenntnis, dass nicht alle Tattoo-TrÀger wilde Hunde oder gar gefÀhrlich sind, werde ich meine Studien im heimischen Sommer und mit neuer Perspektive fortsetzen. Danke Yvonne.

© Franz Brunner 2022-12-14

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