Waldes Dunkel

Silvia Peiker

von Silvia Peiker

Story

„Ich fand auf unseres Lebensweges Mitte in eines Waldes Dunkel mich verschlagen, weil sich vom rechten Pfad verirrt die Schritte“. Dantes Zitat könnte Nicole Krauss‘ Roman nicht besser beschreiben. Das Gespinst vom rätselhaften Existenziellen, das die Autorin mit Feingefühl auf höchstem Niveau webt, drängt nach der etwas langatmigen Einleitung zum Weiterlesen, zum Ergründen der Sphinx.

Zu Beginn begegnen wir dem jüdischen Millionär Epstein, der zum Entsetzen seiner Kinder sein Vermögen und die meisten seiner Kunstobjekte verschenkt. Der Tod seiner Eltern, eine Krebsdiagnose sowie die Trennung von seiner Ehefrau stürzen ihn in eine Sinnkrise. Ein Rabbi, den er über den Wolken kennenlernt, erkennt in seinem Nachnamen, dass er ein Abkömmling König Davids sei. Epstein plant, einen Kiefernwald in der Wüste Negev zum Gedenken an seine Eltern zu pflanzen, einen for-rest, in dem seine rastlose Seele ruhen kann.

Im nächsten Abschnitt begleiten wir eine vor Familie und Haushalt fliehende amerikanisch-jüdische Schriftstellerin, die sich im vertrauten Ambiente des Hilton in Tel Aviv, das sie schon als Kind mit ihren Eltern bewohnt hat, einquartiert. Die Schatten der Vergangenheit, die Ermordung ihrer Urgroßeltern in Auschwitz, lauern noch immer im Hebräerland, während feindliche Raketen vom Himmel fallen und das Rauschen des Mittelmeers am Fuße der Hotelburg zu beschwichtigen versucht. Und was hat ein angeblicher Mossadagent mit Kafkas unveröffentlichtem Nachlass, um den ein Rechtsstreit zwischen der Erbin Eva Hoffe und dem Staat Israel schwelt, zu tun?

Die Autorin kredenzt ihre feinen Lebensweisheiten in nicht immer leicht verdaulichen Häppchen. Sie nötigt uns Nachdenkpausen ab und liegt mit ihrem 2018 erschienenen Roman am Puls der Zeit. Denn 2024 feiern wir Kafkas 100. Todestag und Israels kriegerische Fehde mit den Palästinensern hält die Welt in Atem.

Raffiniert wechselt Krauss die Erzählperspektiven und wir folgen zuerst dem personalen Erzähler Epstein, der von der Ich-Erzählerin in Gestalt der Schriftstellerin abgelöst wird. Während die erste Erzählform eine unergründliche Distanz suggeriert, vermittelt die zweitgenannte vertraute Nähe, da diese frappierende Ähnlichkeiten mit der Autorin des Werkes selbst aufweist. Darüber hinaus stellt Krauss die zwiespältige Rolle Max Brods als Freund und Nachlassverwalter Kafkas infrage. Sie lehnt sich weit aus dem imaginären Dichterfenster und lässt den tatsächlich in Wien an Tuberkulose verschiedenen Kafka gemäß immer wieder auflodernder Spekulationen im gelobten Land als Gärtner in der sandigen Ödnis weiterexistieren. Und die kafkaeske Verwandlung der Protagonisten, die wider aller Vernunft beide in die Wüste entschwinden, dorthin, wo sich die Zeit verliert, hebt ihre beeindruckende Erzählkunst wie ein Kaddisch aufs literarische Podest der jüdischen Identität

Dank an Unsplash fürs schöne Foto

© Silvia Peiker 2024-08-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Mysteriös
Hashtags