von Natascha_Klein
Ich beobachte die Tropfen auf meinem Fenster. Heute ist einer dieser Tage, an denen man sich nach dem Aufstehen direkt wieder schlafen legen möchte. Den lang geplanten Campingtrip habe ich mir definitiv anders vorgestellt. Seit Tagen machen wir nichts anderes als Essen und Schlafen – dies hat mir gezeigt, man sollte mit seinen Wünschen vorsichtig sein. Es klopft an der Tür meines gemieteten Wohnwagens. Meine Nichte steht in voller Montur, samt Gummistiefel vor mir. „Mama sagt, ich soll dich fragen, ob du mit mir zum See gehst“, berichtet sie und sieht mich hoffnungsvoll an. Vielen Dank Schwesterherz. Doch wie kann man zu diesem Blick schon Nein sagen? Als Camping-Neuling bin ich weitaus schlechter ausgestattet als meine fünfjährige Nichte. Ich schlüpfe in meine weißen Sneaker, doch immerhin habe ich eine Jacke mit Kapuze dabei. Meine Socken sind schnell durchnässt – zum Glück ist es nicht kalt.
Auf der anderen Seite des Sees durchzieht ein bunter Schimmer das triste grau. „Ein Regenbogen“, stellt meine Nichte richtig fest. Ich nicke. „Und weißt du auch, was sich am Ende eines Regenbogens befindet?“, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf. „Ein Goldtopf“, verkünde ich, mit einem breiten Grinsen. Schnell steht unser Ziel für heute fest – das hat man also davon.
Obwohl ein asphaltierter Weg um den See führt, schlagen wir uns durch das Gestrüpp. Wir sind auf einer Expedition, auf der Suche nach dem verschollenen Goldtopf. Meine Nichte führt uns an und ich bleibe dicht hinter ihr. Es ist Mitte September und die Bäume haben bereits einige bunte Blätter verloren. Mit dem Wasser auf dem Boden vermengen sie sich zu einer braunen Masse. Abrupt bleibt sie stehen. „Eine Tierspur“, erklärt sie und deutet mir, leise zu sein. Ich nicke. „Was für ein Tier kann das wohl sein?“, flüstere ich mit leiser Stimme. Mit Hilfe eines Stocks misst sie die Pfütze aus. „Ein Panzernashorn“, stellt sie mit ernster Stimme fest. Ich sehe sie mit großen Augen an. Von diesem Moment an bewegen wir uns nur noch mit drei Blättern vor unserem Gesicht fort, damit uns die Nashörner nicht finden – versteht sich von selbst. Die Büsche werden zu Mauern, der See zu einem unüberwindbaren Ozean und als wir eine Weile später vor einigen Pilzen stehen, sind wir uns unabhängig voneinander sicher, hier wohnen kleine, blaue Wesen mit süßen Mützen.
Es dauert Stunden bis wir die andere Seite des Sees erreichen. Aufgrund der Bäume habe ich gar nicht gemerkt, dass es aufgehört hat zu regnen. Der Regenbogen ist verschwunden und mit ihm, auch der Goldtopf. Doch das scheint nun nicht mehr wichtig zu sein. Vom Hunger getrieben, nehmen wir zurück den asphaltierten Weg.
Am Abend kuschle ich mich glücklich in mein Bett. Der Stress aus dem Büro und die Alltagssorgen sind verschwunden. Zum ersten Mal in diesem Urlaub bin ich völlig entspannt. Das war ein schöner Tag.
Morgen erzähle ich meiner Nichte vom Loch Ness.
© Natascha_Klein 2024-09-11