Wann, wenn nicht jetzt?

Michelle Theymann

von Michelle Theymann

Story

2024, Thailand. Mit salzverkrusteter Haut blinzele ich hinter der Sonnenbrille in den azurblauen Himmel. Während die Nussschale von Boot gemächlich über die nächste Welle klettert, bekommen meine nackten Arme ein paar Spritzer Meerwasser ab. Trotzdem bin ich mit meinen Gedanken immer ein bisschen an dem Ort, den ich Heimat nenne, mit allen Menschen, die für mich diesen Begriff definieren. Manchmal klopft das Heimweh an, verschafft sich Gehör inmitten eines Moments in einem Leben, das sich noch fremd für mich anfühlt. Es steht unangekündigt vor der Tür und umarmt mich wie ein alter Bekannter. Komm herein, liebes Heimweh, denn du trägst mir die Dankbarkeit herein: für das Alltägliche, das ich schon zu lange zu schätzen versäumt habe; für die Stimmen am Telefon, die für einen Moment mit mir um die halbe Welt reisen.

Wir kennen uns schon, die Prokrastination und ich. Aber mehr als eine unliebsame Gegenspielerin wird sie nie sein, denn sie bringt meine mühsam gebauten Brücken mit nur einem Handgriff zum Einstürzen. Abitur mit Bestnote, Studium in Regelstudienzeit, den ersten Arbeitgeber finden – der nächste Schritt auf der Leiter war immer klar, als würde ich blind eine Sprosse nach der anderen erklimmen. Dabei habe ich tausend Ideen, wer ich sein will – doch nie habe ich mir erlaubt, eine von ihnen zu Ende zu denken. Bis zu dem Tag, an dem ich meine beste Freundin verloren habe.

Amelie hat es angezündet, dieses Feuerwerk an Spontanität, das jetzt mein Leben ist. Nach all den Monaten kann ich immer noch nicht begreifen, dass meine Sandkastenfreundin für immer fort sein wird. Oder dass erst ihr Tod mich dazu beflügelt hat, ins Tun zu kommen und jenes Glück zu suchen, das nicht in 26 Tage Jahresurlaub passt. Aber das ist die Sache mit dem Glück: Du weißt nie, wann oder wo es dich trifft. Vorher habe ich mich selbst vermisst, als würde ich an meinem eigenen Leben nicht mehr teilnehmen, jetzt weigere ich mich, Angst vor der Welt zu haben. Ich will mich meiner Vorfreude auf die Zukunft nicht berauben, weil das Schicksal sich genommen hat, wen ich so sehr geliebt habe.

Am Anfang war das Abenteuer. Wir versprachen, es miteinander zu versuchen und Hand in Hand gegen den Respekt vor der Fremde anzugehen. Wir teilten unser Zimmer mit Kakerlaken, ließen uns in kristallklaren Buchten auf dem Rücken treiben und fuhren in längst nicht mehr verkehrstüchtigen Gefährten dem Horizont entgegen. Mittlerweile sind wir ein gutes Team, die Freiheitsliebe und ich.

Das Heute ist jemandes letzter Tag auf Erden. Und gerade weil es nicht meiner ist, kann ich fremde Schuld, die nicht getilgt wurde, loslassen und mir selbst vergeben, dass ich die Affäre mit dem Abenteuer so lange geheim gehalten habe. Der Konjunktiv macht mir meine Träume nicht mehr streitig. Manchmal bin ich mir selbst nicht genug, aber im Jetzt existiert dieser Moment. Und ich will ihn leben, will größer sein als die Ungewissheit. Für die Version von mir, die ich sein kann, wage ich ihn: den Sprung ins kalte Wasser. Was für ein unbeschreibliches Glück, Privileg, Hochgefühl. Mit den Händen nach Sternen, Träumen, Abenteuern greifen zu dürfen. Mach das. Trau dich, liebes Ich.

© Michelle Theymann 2024-09-04

Genres
Reise
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Inspirierend, Reflektierend