Je länger man sich im Laufe der Jahre an eine Person gewöhnt hat, desto vertrauter wird einem dieser Mensch mit all seinen Eigenheiten und liebenswerten Marotten. Je länger man diese Person kennt, desto mehr verzeiht und toleriert man. Besonders wenn man noch jung ist. Man definiert sich über den anderen, teilt mit ihm sein Leben, trifft gemeinsame Entscheidungen, sieht in ihm seine „zweite Hälfte“. Die Gründe für Trennungen sind facettenreich – manchmal bewusst gewollt und manchmal unvorhersehbar. Herzensmensch für immer verloren, durch niemanden gleichwertig ersetzbar.
Man definiert sich neu – das Leben geht ja schließlich weiter. Man trägt Verantwortung, hat zwei großartige und Halt gebende Kinder, einen Job. Die vertraute Schulter zum Anlehnen gibt es nicht mehr, ebenso wenig wie das bisher sorglose Vertrauen auf Sicherheit, Beständigkeit und Unbesiegbarkeit. Man funktioniert wie ein neues Uhrwerk, wird härter zu sich selbst, aber auch intoleranter im Verständnis für ewig Jammernde andere. Das Bild des Barons Münchhausen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht, taucht immer wieder auf. Altes hinter sich lassen, einen Neubeginn mit Ortswechsel wagen. Neue Aufgaben, Herausforderungen, Freunde finden und gleichzeitig wissen, dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann. Das braucht so viel Kraft, aber der Leitsatz, der zum ständigen Begleiter wird, lautet „Yes, I can and I do“.
Und irgendwann – der Kopf wusste es schon lange, aber der Verstand hat im Alltag die persönlichen Gefühle verdrängen wollen – wird man wieder auf sich allein zurückgeworfen, wenn die getaktete Verantwortung, nie aber die emotionale, weggefallen ist. Die Buben sind mittlerweile erwachsen und selbstständig auf ihrem Weg ins Leben, der Unruhestand steht bevor. Eine neue Einschätzung der Situation ist angesagt, die man doch schon mal in einem anderen, aber ähnlichen, Kontext kennengelernt hatte. Angst und Unsicherheit finden wieder ihren Weg zum Triggern und Münchhausen schwappt wieder aus dem Sumpf.
Je länger man sich ans Alleinsein – vielleicht aus Selbstschutz – gewöhnt hat, keine Kompromisse einzugehen und in der Zweisamkeit womöglich täglich die Einsamkeit zu leben, desto unflexibler wird man, die persönliche Freiheit im Tun für jemanden anderen hintanzustellen oder sich nach dessen Befindlichkeit und Zeitvorgaben richten zu wollen, wiewohl eine Schulter zum Anlehnen manchmal fehlt.
Es gibt keine Zeit sich zurückzulehnen, die wäre viel zu kostbar vergeudet. Das Leben bietet einen so unendlichen Reichtum an Aufregendem, Buntem, Schönem, Neuem, wenn man nur hinsehen möchte. Am Ende des Tages zu den gegangenen Wegen stehen zu können, ohne Wehmut, ohne das Gefühl, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben, zu wissen, dass man mit gutem Gewissen so oder so ähnlich wieder handeln würde, wenn es die Situation verlangt, nie aufhören, sich selbst zu motivieren und vermeintliche Grenzen, ob von außen oder selbst verhängt, zu überwinden, mit sich zufrieden sein und vor allem darauf zu achten, sich im Alleinsein nicht einsam zu fühlen. Vielleicht sind dies die Gründe für die Antwort auf eure Frage.
© Brigitte Ammer-Weis 2024-07-17