Warum eigentlich Japan?

Gino Dola

von Gino Dola

Story
Japan 2024

Diese und ähnliche Fragen werden mir oft gestellt: »Was gefällt dir so sehr an Japan?«, »Macht dich dein Heimatland so unglücklich?«, »Was machst du überhaupt in Japan?«. Eine dieser Fragen beantworte ich am liebsten mit: »Eigentlich gefällt mir in Japan alles«, und ja, das meine ich genauso! Natürlich ist diese Antwort knapp, und ehrlich gesagt, reicht das den meisten auch nicht. Es ist wirklich schwierig, gerade für jene, die Japan bisher nicht selbst erlebt haben, zu beschreiben, wie dieses Land ist und was mich daran so fasziniert. Ich verstehe aber, dass es nun an der Zeit ist, diese Fragen zu beantworten. Vorweg beantworte ich eine andere Frage: »Nein, ich bin in meinem Heimatland nicht todunglücklich…«, aber in Japan bin ich glücklicher – viel mehr als das! In Japan spüre ich tief in meinem Innern etwas, das ich zuvor nirgendwo auf der Welt gespürt habe: das Gefühl, zuhause zu sein. Mit meinen fünfunddreißig Jahren habe ich längst nicht die ganze Welt bereist, doch kenne ich bereits einige Länder, große und kleine Städte und verschiedene Kulturen. Doch nur in Japan habe ich mich wirklich angekommen gefühlt – und das nicht zuletzt auch bei mir selbst. Mir ist bewusst, dass Menschen die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Was der eine als laut und stressig empfindet, mag für den anderen der ruhigste Ort der Welt sein. Meinem Empfinden nach machen es die Menschen in Japan einem leicht, anzukommen. Die Lebensfreude, die Höflichkeit und der Respekt gegenüber allem und jedem sind hier Teil des Alltags. Besonders die Freundlichkeit – sei sie auch teils kulturell anerzogen und nicht immer persönlich gemeint – reißt mich mit. Hier haben nicht nur Lebewesen ein Herz; so ziemlich alles, was einem begegnet, ist mit Liebe gemacht, platziert, dekoriert und durchdacht – allem scheint eine Seele innezuwohnen. Vielleicht ist es gerade dieses Detail, das mich am meisten fasziniert. Ich komme aus einer Kultur, in der man oft merkt, wie es dem Gegenüber geht – egal, ob man sich kennt oder nicht, ob man beim Spazierengehen in das Gesicht eines Fremden blickt oder beim Einkauf auf müde oder unglückliche Menschen trifft. Auch ich kann das nicht immer verbergen, doch hier ist es anders. Hier, zumindest für mich, muss ich nichts verbergen, denn ich bin einfach ausgeschlafen, wach und glücklich. Mir gefällt es, höflich und respektvoll behandelt zu werden, zurückgegrüßt zu werden, und selbst das kleinste Lächeln, das sich auf meinen Lippen abzeichnet, wird oft mit einem Lächeln oder einem leichten Nicken erwidert. Obschon gerade Tokyo einem Ameisenhaufen gleicht, überall zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen unterwegs sind, sich grellbunte Neonreklamen an den Fassaden in ihrer Farbenpracht überbieten und das Leben selbst in der tiefsten Nacht laut und schnell ist, finde ich hier Ruhe, tiefe innere Ruhe. Während das Leben hier vierundzwanzig Stunden am Tag in den von üppigem Grün gesäumten Betonadern pulsiert und die Autos – mehrheitlich in Schwarz und Weiß – als Blechlawine zwischen den Wolkenkratzern rollen, kann man dennoch ganz für sich allein sein, in aller Stille. Tradition und vor allem traditionelle Architektur trifft hier nur allzu oft auf die Moderne, zusammengeschmolzen zu einem einzigartigen Stadtbild, welches nicht zuletzt durch absolute Perfektion und Sauberkeit beeindruckt. Das Gefühl, hunderte Meter hoch auf einem Rooftop zu stehen, inmitten eines Gartens, an dessen Ende ein uralter Schrein die gläserne Fassade abschließt, welche zweimal am Tag in goldenes Licht getaucht wird, wenn die Sonnenstrahlen günstig stehen – das ist unbeschreiblich. Es sind genau diese Momente, die Japan für mich so einzigartig machen, die mein Herz berühren. Ich erfreue mich morgens am Tau, der von den liebevoll platzierten Blumen tropft, die fast jeden Eingang schmücken. Unterschiedlich hohe und farblich nicht zusammenpassende Blumentöpfe zieren das Bild jeder Straße, die selbst ohne diesen bunten Tupfer wie gemalt wirkt. Hingabe und Perfektion scheinen in allem zu stecken – spürbar und sichtbar. Die Esskultur ist fast nirgends größer, vielfältiger und schöner als hier. Ob es die Liebe zum Detail ist, jahrhundertealte Rezepturen oder die Sorgfalt bei der Zubereitung – es macht keinen Unterschied, ob es sich um ein feines Restaurant, einen kleinen Ramen-Laden, einen Streetfood-Stand oder ein kleines Takeaway-Lokal handelt: Die Qualität ist immer gleich hoch, und das Essen ist stets ein Genuss – für Auge und Gaumen. Ich könnte über jeden Aspekt des täglichen Lebens ein Buch schreiben und käme doch immer zu demselben Schluss: Ich liebe hier wirklich alles. Jede Straße ist wunderschön, jedes Detail bis ins Kleinste durchdacht und effizient in den Alltag integriert. Natürlich bin ich mir auch der Schattenseiten bewusst: die hohe Selbstmordrate, Seelen, die leise aus der Welt verschwinden, die konservative Politik und der allgegenwärtige Leistungsdruck, verstärkt durch surreale Schönheitsideale. Auch die Naturgewalten sind hier besonders gefährlich. Jeden Tag gibt es Erdbeben, und in meiner Lieblingszeit – der Taifunzeit – ist die Hitze oft unerträglich. Der Regen, der oft von gewaltigen Gewittern begleitet wird, ist atemberaubend, ohrenbetäubend und wunderschön anzusehen, wenn mächtige Blitze laut an den Fassaden widerhallen. Nachts ist Japan eine andere Welt als bei Tag: Die Gerüche ändern sich, die Atmosphäre auch. Nach Sonnenuntergang verwandeln sich die unzähligen Wolkenkratzer in dunkle Betonnadeln, deren tausende, beleuchtete Fenster wie Blattgold in der Nacht schimmern. Millionen Straßenlaternen und Werbetafeln tauchen große Teile Japans in ein pastellfarbenes Lichtermeer. Das Leben scheint hier niemals stillzustehen, und doch fühlt es sich oft so an, als würde die Zeit gerade hier, genau hier, stillstehen. Es gibt keinen Ort auf der Welt, der wirklich perfekt ist – und das muss er auch nicht sein, um ihn Zuhause zu nennen. Er muss sich nur so anfühlen. Mein Himmel in Japan ist einfach ein bisschen blauer als irgendwo anders auf der Welt.

© Gino Dola 2024-10-20

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Inspirierend