Warum immer ich?

chrissys_welt

von chrissys_welt

Story
Ostdeutschland, Mitteldeutschland

Diese Frage kennt ihr, oder? Jeder von uns hat sie sich doch schon mehr als einmal in irgendeiner Situation oder ruhigen Minute gestellt. Und zu welchen Erkenntnissen seid ihr gekommen? Unterm Strich wahrscheinlich, dass ihr einfach zu gutmütig seid, nicht oder schlecht „nein“ sagen könnt oder harmoniebedürftig seid und einfach keinen unnötigen Stress wollt, wenn er doch vermeidbar ist. Ich persönlich hatte auch solche Gedanken, habe mich selbst reflektiert und festgestellt, dass ich einfach schwer aus meiner Haut kann. Das kann einerseits positiv, anderseits ein Fluch sein.

Tauchen wir ein in die Kindheit, in die Zeit der Wandertage und Klassenfahrten. Ich habe schon immer gern fotografiert, der erste Fotoapparat war der meiner Mama: Film einlegen, aufziehen, ganz alte Schule. Zu allen Aktivitäten hatte ich den dabei, habe immer alles und jeden abgelichtet, leider nie mich selbst. Alle haben sich auf mich verlassen und sich über die Bilder gefreut. Bis meine Mama dann gefragt hat, warum denn immer nur ich fotografiere, nie jemand anders. Und warum ich nie auf einem der Bilder bin. So hatte ich das noch gar nicht betrachtet. Also ließ ich beim nächsten Wandertag den Apparat zu Hause. Na, da war vielleicht was los in der Klasse! Am wenigsten natürlich Verständnis, da sich wieder alle auf mich verlassen hatten. Später, mit dem ersten eigenen Auto, war ich derjenige, der meist alle zum Badesee oder zur Disco mitgenommen hat. Ich musste nicht zwangsläufig Alkohol trinken, das war für mich okay. Auch daran gewöhnten sich alle. Bis das Auto mal in der Werkstatt war und ich selbst mitgenommen werden wollte. Darauf war niemand vorbereitet. Oder die Streitigkeiten im Freundeskreis, ob es um sachliche Dinge ging oder um Zoff zwischen zwei Liebenden. Wer versuchte wieder zu schlichten, zu vermitteln oder die Wogen zu glätten? Ganz besonders deutlich wurde es bei räumlichen Trennungen. Freunde zogen um, hatten Familie oder andere Interessen. Immer hieß es, wir bleiben in Kontakt. Auf jeden Fall. Dann war erstmal Funkstille. Irgendwann beginnst du, die Menschen, mit denen du viel Zeit verbracht hast, zu vermissen. Und rufst an. Oder schreibst. Ja, sie haben sich gefreut, und die Freude war auch ehrlich. Das habe ich rausgehört. Also habe ich regelmäßig Kontakt aufgenommen, aber eben immer nur ich. Dass so ein Telefon in beide Richtungen funktioniert, war wahrscheinlich absurd. Das hat mich auf Dauer frustriert, und ich habe mich immer öfter gefragt, warum wieder nur ich der Dumme bin, der versucht, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Irgendwann hab ich es gelassen. Es hat geschmerzt, und ich habe mir viele Gedanken gemacht, ob ich nicht doch noch einen Versuch wagen sollte. Aber ich wollte nicht, war enttäuscht, sogar verärgert. Vielleicht liegt es aber nicht nur an den Menschen selbst, vielleicht auch an der Entwicklung der Gesellschaft und deren Tempo. Ist es der heutigen Zeit geschuldet? Oder spielt doch die Oberflächlichkeit der Menschen eine Rolle? Oder geht es generell nur mir so? Vielleicht will ausgerechnet mit mir niemand weiteren Kontakt haben, da ich vielleicht ein ganz und gar furchtbarer Mensch bin. Da kommen dann auch die Selbstzweifel, und die abzulegen, ist verdammt schwer.


© chrissys_welt 2023-05-11

Genres
Biografien
Stimmung
Emotional, Reflektierend, Traurig
Hashtags