von Gernot Lasser
Michaela war ein Engel. Weißblonder Lockenschopf, vergissmeinnichtblaue Augen, ein zartes, liebenswertes Mädchen. Sie war mein erster Schwarm. Elf Jahre jung starb sie durch einen Fahrradunfall. Bis zu diesem Tag kannte ich Trauer und Verlust nicht. Noch heute, einundvierzig Jahre später denke ich immer wieder gerne an sie und frage mich: „Warum ist das Leben so ungerecht?“
Sabine war die wunderbare, hübsche Freundin eines Freundes. Alle liebten sie. Sie war einfach nur zum gernhaben und jeder von uns wünschte, so ein Mädchen seine Freundin nennen zu dürfen. Sie erlag ihrer Leukämie mit sechszehn. Von der Diagnose bis zum Tod vergingen nur Wochen.
Als mein Großvater mütterlicherseits im achtzigsten Lebensjahr am Tag seiner Entlassung nach einer Operation starb, ging die Welt für unsere Familie unter. Es gab niemanden, der diesen wunderbaren Menschen nicht mochte. Wir liebten ihn.
An einem regnerischen Novembertag im Jahr 1997 ereilte mich die schreckliche Nachricht, dass mein liebenswerter Cousin Günther mit zweiundzwanzig bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Bis dahin kannte ich niemanden, der so selbstlos und hilfsbereit war. Ein sinnloser, weil vermeidbarer Tod. Wir vermissen ihn.
Meine Großmütter folgten ihnen. Absehbar, aber nicht weniger schmerzhaft. Ich bin sehr dankbar, solche Großeltern gehabt haben zu dürfen. Niemand kann so bedingungslos lieben, wie sie es taten.
Marion, ein Naturmensch und sympathisch wie selten jemand, holte der Brustkrebs. Barbara, eine liebenswerte Kollegin meiner Frau, holte er auch. Eine junge Mutter, die lange kämpfte, vergebens. Wie auch Ariane, die Lebensgefährtin eines Geschäftspartners, die ihrem ungeborenen zweiten Sohn zu Liebe auf die Leben rettende Therapie verzichtete. Sie erlag ihrem Schicksal einen Tag vor dem ersten Geburtstag ihres gesunden Zweitgeborenen.
Schlussendlich rang Darmkrebs Huib nieder, den tapferen Mann der Cousine meiner Frau in den Niederlanden.
Jeder Tod war ein Schock. Gelähmt, weinend, unfähig, die Trauer zu bekämpfen, teilt das Schicksal jedem von uns ein Los zu. Den einen leichtere, anderen schwerere. Es gibt nichts, was in diesen Zeiten heilt. Kein Wort spendet Trost. Jeder Gedanke an die Lieben treibt Tränen in die Augen, ein Kloß schnürt den Hals zu. Trauer!
Was das Leben aber lehrt, ist die Gewissheit, dass Zeit tatsächlich etwas ändert. Wann ich heute an sie denke, habe ich keinen Kloß im Hals und keine Tränen laufen über mein Gesicht. Es ist vielmehr ein dankbares Lächeln, das meine Gedanken an sie auf meine Lippen zaubert. Dankbar, an ihrem Leben teilgehabt haben zu dürfen. Dankbar, dass sie meines bereicherten und dafür, dass es mir jedes Mal, wann ich an sie denke, gut geht.
So nimmt der Tod uns unsere Lieben. Aber er siegt nicht, weil sie in unserem Denken weiterleben. Das ist es, was es mir ermöglicht, vorbereitet zu sein, wann das Schicksal wieder zuschlagen wird. Das wird es, ohne Frage. Aber es bestimmt mich nicht.
© Gernot Lasser 2020-08-30