von Nadine Neurath
Ich sehe zu gesund aus, um krank zu sein. Was fĂĽr ein absurder Satz. Und doch fasst er ganz gut zusammen, was ich als chronisch Kranke in den letzten Jahren erlebt habe.
Das erste Mal hörte ich diesen Satz als Kind, als ich einen mit meinem Schulranzen bestückten Einkaufstrolley hinter mir herschleifte. Der Busfahrer war wütend, weil ich mit dem umgebauten Gefährt angeblich seinen Bus beschädigen würde. Auf den nicht minder zornigen Hinweis, dass ich eine Erkrankung am Rücken habe und nicht schwer tragen darf, brummelte er nur achselzuckend, dass man mir das ja nicht ansehen würde.
Zum zweiten Mal kam mir der Satz zu Ohren, als meine Kommilitonen hinter meinem RĂĽcken tuschelten, dass ich wohl um meine Figur besorgt sei, weil ich im Restaurant so viele „SonderwĂĽnsche“ hatte. Dass ich viele Unverträglichkeiten und Magen-Darmbeschwerden habe und deshalb sehr vorsichtig mit dem Essen sein muss, konnte ich ihnen trotz ausfĂĽhrlicher Erklärungen nicht begreiflich machen. SchlieĂźlich wirke ich doch ganz normal und lustig.
Zum dritten Mal musste ich mir den Satz bei der Arbeit anhören, weil ich zu denen gehöre, die eher später anfangen und dafür länger arbeiten. Eine Kollegin konnte das nicht verstehen und bezeichnete mich als faulen Langschläfer. Ich sagte ihr, dass ich jeden Morgen eine Stunde benötige, bis die Übelkeit aufhört und meine Knochen aufhören zu schmerzen. Für mich ist es schon eine Leistung überhaupt aufzustehen. Das hat mit Langschläfertum nichts zu tun. Aber auch sie wollte mich nicht verstehen.
Am schlimmsten ist es jedoch mit manchen Ă„rzten. Wenn ich ihnen berichte, wie es mir geht und welche Beschwerden ich habe, sind sie von der Vielzahl und Komplexität der Symptome meiner seltenen Erkrankungen oft ĂĽberfordert. Die „guten“ Ă„rzte nehmen die Herausforderung an und versuchen herauszufinden, wie sie mir helfen können. Es ist allerdings auch schon mehr als einmal passiert, dass ich ein zweifelndes „Das kann nicht sein, dass Sie diese Beschwerden haben. DafĂĽr ist Ihr Allgemeinzustand viel zu gut.“ geerntet habe. Muss man sich etwa gehen lassen oder offenSICHTlich schwerstbehindert sein, um von diesen Ă„rzten ernst genommen zu werden?
Wieso maĂźt ihr euch alle an, mich beurteilen zu können? Seid ihr dabei, wenn ich mich mit Schmerzen aus dem Bett quäle, mich mit Schmerzen durch den Tag schleppe, möglichst „normal“ meine Aufgaben zu erledigen versuche und abends völlig fertig ins Bett falle?
Ich will kein Mitleid. Ich will auch nicht lästig oder eine Fallnummer sein. Sondern ich wünsche mir, dass ihr damit anfangt, hinter die Fassade eines chronisch Kranken zu blicken und den Menschen sucht, der dahintersteckt. Wenn ihr etwas nicht versteht, dann fragt.
Aber hört auf, euch ein Urteil zu bilden über Dinge, die ihr weder sehen noch fühlen könnt.
© Nadine Neurath 2021-09-16