Jedes Mal, wenn ich scheitere, bin ich wieder sieben und beim Skilaufen im Anfängerrennen als letzte ins Ziel gefahren. „Dass sie nicht gefallen ist“, sagte mein Bruder, „ist auch alles.“
Er war in meiner Erinnerung immer groß. Ich war klein. Er war immer wissend. Ich war naiv. Er war immer weiter. Ich lag zurück. In meinem Herzen, dem eines kleinen Mädchens, das zu fragil dafür war, dass ein großer Mensch sie in jedem zweiten Satz dumm oder behindert nannte, lag das nie daran, dass er fünfzehn war und ich sechs, dass er zwanzig war und ich elf, dass er siebenunddreißig ist und ich achtundzwanzig.
Jedes Mal, wenn ich ein Nein höre, lese, empfange, jedes Mal, wenn ein Urteil negativ ausfällt, schießt die Antwort wie Vulkan-Magma aus meinen Tiefen zu mir hoch: nichts.
Jedes Mal, wenn ich scheitere, bin ich zehn, Regionalsiegerin beim Lesewettbewerb. Ich lese und verhasple mich, verliere, im Stechen. Im Auto vergieße ich Tränen, Kopfschmerzen fressen mich auf.
„Was heulst du denn jetzt?“, fragt mein Bruder. „Der andere war halt besser.“ Ich heule, weil ich dich enttäuscht habe. Dich und unsere Mutter. Ich heule immer für die anderen. Nicht ich habe dort vorgelesen, sondern ihr. Ich bin nur der Echoraum, der Neuanfang, die Zweitkarriere, die Wege beschreitend, die euch verwehrt gewesen.
Als ich mein Abiturzeugnis in den Händen hielt, packte mich der Gedanke, dass es treffender wäre, wenn dort ihr Name stünde. Alles, was ich bin, was ich tue, gilt anderen. Meiner Mutter, die mit sechzehn Jahren von ihren Eltern arbeiten geschickt worden war, nicht jene Vorzüge genossen hatte, die für mich selbstverständlich sind. Sie ging putzen in fremde Häuser. Ich auf eine höhere Schule.
Über die Jahre wurden meine Gefühle immer stumpfer, bis heute, wo ich mich über so gut wie nichts mehr freue (manchmal über Essen). Jedes Durchfallen, jede Niederlage, jeder Rückschlag, jedes nicht-gut-genug-um-für-die-engere-Auswahl-in-Betrachtung-gezogen-zu-werden jedoch bitterlich beweine. Nichts, dröhnt die Stimme meines Bruders in meinem Kopf, nichts kannst du. Aus dir wird nie was. Mit jedem Nein wächst die panische Vorahnung, er möge Recht behalten. Ich bin jetzt achtundzwanzig und mir wurde weitaus öfter Nein gesagt als Ja. Jede Negativ-Nachricht verstehe ich, sehe ich, nicht als temporären Rückschlag, sondern als durchschlagenden Beweis meiner Insuffizienz. Guck, denke ich, wusste ichs doch: eine Nichtskönnerin. War bloß eine Frage der Zeit, dass sich meine mir innewohnende Konstitution mal wieder augenscheinlich manifestierte.
Ungenügend setzt eine Kettenreaktion in Gang, in deren letzter Instanz ich mich mittellos unter einer Berliner Brücke imaginiere. Aus dir wird nie was flaniert in meinem Kopf. Ich würde gern mehr von mir denken, besser, positiv, optimistisch in die Zukunft, aber meistens sehe ich nicht weiter als bis zu meiner nächsten Niederlage.
© Marielle Kreienborg 2021-02-18