von Daniel Walczak
Leon las den Brief noch einmal. Mit weit aufgerissenen Augen strich er mit dem Zeigefinger die Ränder des dünnen Papiers entlang. Jahrelang hatte er geglaubt, seine Mutter wäre durch einen Unfall zu Tode gekommen. Der Brief änderte daran nichts, doch jetzt, wo sich jemand zu diesem Unfall bekannte, wirkte er auf Leon wie ein Mord. Es gab einen Verantwortlichen und wer immer es war, er war sich die ganze Zeit über seine Tat bewusst gewesen. Doch warum offenbarte er sich nicht einfach? Immerhin schien er sich schuldig zu fühlen, sonst hätte er den Brief nicht geschrieben.
An der Tür klopfte es. »Verdammt«, fluchte Leon. Er hatte beinahe vergessen, dass er Viola eingeladen hatte und nun war er kurz davor, das Date spontan abzusagen. Sein Herz raste und ihm wurde schwindlig, als er zur Tür ging und öffnete. Er durfte sich nichts anmerken lassen, immerhin wartete er schon seit Jahren auf ein Treffen. Und in letzter Zeit war ihm die Frau mit den langen, dunklen Haaren sehr zugewandt gewesen. Jetzt, wo sie vor seiner Tür stand, vernahm er erneut ihre traumhaft braunen Augen. Sie trug eine pastellblaue Haarklammer und ein dazu passendes, luftiges Kleid. Ihre Haare wehten leicht im Wind, während sie ihren Mund zu einem Lächeln formte und vorsichtig einen Schritt auf Leon zumachte.
»Hey«, sagte sie mit einem Anflug von Lachen in der Stimme. Doch bei Leons Anblick wurde ihre Mine augenblicklich ernst. »Ist es gerade schlecht?« Mit gerunzelter Stirn schaute sie ihm in die Augen und nachdem er den Kopf geschüttelt hatte, schob sie sich an ihm vorbei. Leon ging schnell zum Tisch herüber und ließ den Brief mit dem Schuldbekenntnis in seiner Tasche verschwinden. Gerade war ihm absolut nicht nach Gesellschaft, aber die Chance auf ein näheres Kennenlernen mit seiner Jugendliebe durfte er sich nicht entgehen lassen. Auch, wenn die Umstände alles andere als optimal waren, wollte er Viola unbedingt näher kennenlernen. »Setz dich doch!« Seine Stimme war ungewohnt zittrig und sein Magen überschlug sich in einem Anflug von Nervosität und Angst. Angst vor den Nachwirkungen dieses Schreibens. Würde sich der Absender demnächst persönlich melden? Doch all diese Gedanken musste er nun verdrängen. »Bist du gut hergekommen?«, fragte er Viola stattdessen. »Ja, die Busse fahren zum Glück wieder regelmäßig.« Sie schaute zu ihm auf und lächelte ihm zu. »Wie du weißt, fahre ich seit einiger Zeit kein Auto mehr.« »Warum eigentlich?«, antwortete Leon. Diese Frage schien ihm gut als Eisbrecher geeignet. Viola schaute ihn an, während sie langsam ihre Augen schloss. Ihre langen Wimpern umschmeichelten ihre Lider. »Da war so eine Sache, damals. Du hast meinen Brief erhalten?«
© Daniel Walczak 2023-07-30