Was soll nun werden?

Annemarie Baumgarten

von Annemarie Baumgarten

Story
Berlin 1996 – 1997

Mir ging es nun zu Hause gar nicht gut. An den Kleinen hatte ich mich schon so gewöhnt. Selbstvorwürfe quälten mich. Ich schlief fast nicht und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Max rief unsere frühere Kollegin an, die fast wie eine Mutter zu mir war. Vor einigen Jahren ging sie in Rente. Sie kam gleich ins Haus und bewegte mich, etwas zu essen und mit ihr ein wenig im Park spazieren zu gehen. Sie meinte, kein Vater oder Erzieher der Welt kann ununterbrochen auf die Kinder achten. Es kann immer was passieren. Deshalb geht keiner gleich ins Gefängnis. Was wäre denn dann mit den leiblichen Eltern von Thomas? Niemand wusste schließlich von den Vorerkrankungen des Jungen.

Silvio meldete sich aus dem Urlaub zurück und fragte, ob er Thomas sehen kann. Ja, sehen war das richtige Wort. Auch Silvios Eltern waren sehr erschrocken über das, was ich ihnen am Telefon berichtete.

Der erlösende Anruf kam nach einigen Tagen. Der Junge ist aufgewacht und kann besucht werden! So schnell es ging, begab ich mich auf den Weg zu meinem Tom. Ich fragte ihn, was er für Geschichten macht? Jedenfalls war ich so froh, dass er es geschafft hat. Allen, die mit mir gefiebert hatten, ging es auch so. Ein Ernährungsplan wurde seitens des Krankenhauses aufgestellt. Es müsse auch zu Hause täglich Insulin gespritzt werden. Mir fiel ein, dass Max damit Erfahrung hat. Er hatte das bereits bei seiner Mutter jahrelang getan. Bald lernte ich es auch, falls Max abwesend ist.

In Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt stellten wir einen Antrag, dass der Unterricht für Tommy nach den Ferien vorläufig zu Hause stattfinden kann. Schulen für Hochbegabte gibt es, jedoch erst für etwas ältere Kinder. Wir hätten den Jungen jeden Tag dorthin fahren müssen. Bei Krankheit hätte er dort und auch in seiner Grundschule viel Unterricht versäumt und wäre zurückgeblieben. Frontalunterricht hatte ich seit meinem Praktikum 1982/83 nicht mehr erteilt, Nachhilfestunden zur Genüge. Müsste ich heutzutage vor einer Klasse stehen, würde wahrscheinlich gelegentlich meine Stimme nicht halten. Unterricht für ein Grundschulkind war für mich Premiere. Thomas kannte höchstwahrscheinlich schon vor Schuleintritt alle Buchstaben, so die Einschätzung seines ersten Lehrers. Wir unterhielten uns ausführlich mit ihm und beschafften über die Grundschule alle erforderlichen Unterrichtsmaterialien für das zweite Schuljahr.

Es klappte recht gut. Thomas hatte hier zu Hause keine Angst mehr, wegen einer möglicherweise falschen Antwort ausgelacht zu werden. Dafür musste er auch alle meine Fragen beantworten. Wir mussten nicht auf langsamere Schüler Rücksicht nehmen und konnten in seinem Lerntempo voranschreiten. Aufgaben, die für die häusliche Arbeit vorgesehen waren, löste Tom gleich am Ende der Unterrichtsstunde. Wenn es im gut ging, kamen wir schnell voran.

Von der Schulklasse wurden wir mehrfach zu Sportfesten und Wandertagen eingeladen. Sofern wir es ermöglichen konnten, nahmen wir teil.


© Annemarie Baumgarten 2024-12-04

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Herausfordernd