Vor dem Fenster schneit es dicke weiße Flocken. Ich sitze eingekuschelt im Bett und scrolle durch die Timeline des Standard und bleibe bei der Überschrift“Staberl“ Richard Nimmerrichter gestorben“, hängen. Diese Headline löst etwas in mir aus und ich tippe auf den angefügten Link. Lese die Zeilen. Und mit jedem Wort, das sich in meinem Hirn zu Informationen und weiter zu Gedanken formt, potenziert sich ein wohl bekanntes Gefühl.
Über diese Tatsache, dass es einem Mensch fast 40 Jahre möglich war, unter anderem den Einstellungen, die in den tiefsten dunkelbraunen Schubladen einiger Österreicher*innen schlummern, eine laute, öffentliche und gut bezahlte Stimme zu geben. Dem es von seinem Auftraggeber ermöglicht wurde, gedankliche Gülle, immer wieder aufzurühren, zum Brodeln zu bringen und erneut als toxisches Gedankengut fein übers Land zu versprühen. Durch eine Kolumne in der auflagenstärksten Zeitungen des Landes. Deren Erfolgsvoraussetzung, laut seiner eigenen Angabe, Feinde, waren. Ein nicht unerheblicher Teil davon war dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen, weshalb es aktueller weise Feind*innen lauten müsste. Alleine diese Anmerkung hätte schätzungsweise ausgereicht, um mich in die Reihe dieser einordnen zu können. Wenn nicht genügend vorhanden waren, dann züchtete er diese, was er offenherzig äußerte, um sie wiederum für seine Vorteile zu nützen.
Mein vom Zorn getragenes Unverständnis gegenüber diesem System ergießt sich in folgende Fragen:
Wie kann es sein, dass einem Menschen für sein gesamtgesellschaftlich betrachteten, “wenig förderliches” Handeln, jahrzehntelang tagtäglich eine Bühne gegeben wurde und dieser damit auch noch einen “Kult-Status” erlangte?
Wie ist es möglich, dass ein Mensch, der 58 Mal, meist wegen übler Nachrede in einem staatlich geförderten Printmedium, verurteilt wurde, mit seiner Tätigkeit ein Vermögen anhäufen konnte? Eines, welcher einer Pflegefachkraft, eine*r Schwerarbeiter*in oder eine*r Vollzeit arbeitenden Alleinerzieher*in in mehreren Leben nicht möglich ist?
Wie viel Anteil haben patriarchale Strukturen an diesem Phänomen und wie viele dieser überwiegend männlichen HERRschen bis dato in unserem Land?
Warum habe ich Bedenken diese Worte in die Welt hinaus zuschicken? Vielleicht eben wegen meines Geschlechts und dem fehlenden machtvoll-strukturellen Background?
Vielleicht weil es noch immer jene, wie IHN gibt, die Weibsbildern wie mir ausrichten würden, dass es schön wäre, würden wir uns dem Verkleben unseres fortschrittlichen Mundwerks widmen?
Nichtsdestotrotz stand hinter “Staberl” ein Menschen. Dem 101 Jahre gegeben waren, um zu lernen. Dessen Leistung u. a. darin zu sehen ist, noch posthum starke Emotionen auszulösen.
Ein Mensch, der gestand in 100 Jahren seinen glücklichsten Augenblick gehabt zu haben, als er alleine südsteirischen Wein trank.
Möge es ihm vergönnt gewesen sein, Hass gegen Frieden einzutauschen.
© Marianne Kerschbaumer 2022-02-09