von Nina Martin
Als er gestorben war, zu Hause, so wie er es sich gewünscht hatte, nach kurzer sehr schwerer Leidenszeit, konnte ich endlich etwas tun, was ich mir immer ersehnt hatte. Ich konnte ihn berühren.
Ich hatte ihn so sehr geliebt, gehasst und bewundert, aus der Ferne, denn anders war es nicht möglich. Er entzog sich mir, zeitlebens, obwohl wir lange Zeit am gleichen Esstisch saßen, im gemeinsamen Haus lebten.
Es war der Morgen seines Todes, und ich war alleine mit ihm. Es war mir ein Bedürfnis, mit ihm zu sein, obwohl ich immer Angst hatte vor Leichen und der Mysterien des Todes. Bald würde er abgeholt werden. Ich war froh, dass sein Körper nicht mehr ankämpfen musste gegen das Unwiederbringliche und trotzdem fassungslos, dass er gestorben war. Unser Vater, der immer so sportlich, so diszipliniert und genetisch gesegnet war, er würde einfach nicht sterben. Dachten alle, die ihn kannten, zumindest nicht vor seinem hundertsten Geburtstag. Wenigstens war er alt geworden, konnte bis zuletzt arbeiten und Dinge tun, die er gerne tat.
Behutsam zog ich seinen Schlafanzug zur Seite und wusch ihn. Ich hatte ihn nie nackt gesehen, das war in seiner Generation nicht üblich, aber es befremdete mich nicht. Ich streichelte das Öl in seine Beine und überall an den trockenen Partien ein. Ich hatte ihn so lieb gehabt und endlich konnte ich das tun, was ich mir immer gewünscht hatte. Ein Vater zum Anfassen, Kuscheln, Umarmen, der auch mit mir offen spricht so wie mit anderen Menschen in seinem Leben.
Es war zeitlebens nicht möglich. Mir gegenüber blieb er unnahbar und da ich ein kleines wildes Mädchen war, gab es große Konflikte, da es mir lieber war, ihn wütend zu machen, als gar nicht gesehen zu werden. Wenn er mich schlug, wurde aus meiner kindlichen Liebe allerdings Hass. Dann hasste ich ihn aus voller Seele…
Das Schlimme war, dass er eigentlich so ein empfindsamer Mann war, der jeden Käfer von der Straße auf die Wiese rettete. Er konnte wunderbar empathisch sein. Wie oft erlebte ich es als Heranwachsende, wie er andere Kinder über den Kopf strich und sie vor ihren Eltern lobte. Ich fühlte mich klein, unsichtbar und stets störend in seinem Leben.Unvergessen und tief eingebrannt hatte sich eine Szene im Elternhaus. Besuch war gekommen, ein befreundetes Ehepaar mit Tochter. Ich kam in den Raum, begrüßte alle höflich und er sagte: Seht sie an, sich anmalen und hübsch machen, ist alles, was sie kann.
Ich schämte mich so sehr, es war so erniedrigend für mich.
Später nahm ich es als Ansporn, hübsch zu bleiben, denn das konnte ich ja, sagte mein Vater.
Vati, ich habe dich sehr geliebt, auch wenn du mich nicht so lieben konntest wie ich es verdient hätte. Wie es jedes kleines Mädchen verdient hätte.
Er konnte es nicht anders. Es lag nicht an mir.
© Nina Martin 2020-11-11