Was vom Rummel blieb

Andreas Trimmel

von Andreas Trimmel

Story

Da lagen sie – die blutverschmierten Splitter, die vor wenigen Sekunden noch feste Bestandteile meiner beiden mittleren oberen SchneidezĂ€hne waren. Neben ihnen lag die nigelnagelneue Geldbörse. Am Boden. Im Inneren eines Mini-Scooters. Nach einem Crash, bei dem ich 2 halbe SchneidezĂ€hne verlor.

Blut rann aus meinem Mund. Ich muss ausgesehen haben wie ein Raubtier, das grad seine Beute gerissen hatte. Das erklÀrte wohl auch das abrupte Verstummen des eben noch vernommenen Lachens. Jenes der Freunde, die meinen Kumpel und mich gerammt hatten. Im Autodrom, beim jÀhrlichen Rummel.

Ich saß da und wusste nicht, was ich tun sollte. Interessanterweise spĂŒrte ich keinen Schmerz. Noch nicht. Der sollte erst spĂ€ter kommen. Was ich verspĂŒrte, das war Verzweiflung. Mir wurden soeben 2 ZĂ€hne halbiert. Keine MilchzĂ€hne, nein. Die hatten mich schon vor einigen Jahren verlassen.

Nein, es waren ZĂ€hne, die bereits der 2. und letzten Garnitur angehörten. Die wuchsen nicht mehr nach. Das war das Einzige, was mir in dem Moment klar war. Doch was war die Konsequenz? Mussten mir die beiden Stummel schmerzhaft entfernt werden? Und ich Zeit meines Lebens mit einer riesigen ZahnlĂŒcke durch die Gegend laufen? Konnte ich mit der ĂŒberhaupt noch vernĂŒnftig essen? Und sprechen?

Oder bekam ich ein drittes Gebiss? So eins, wie die alten Leute es haben, zum Hinein- und wieder Herausgeben? Das im Badezimmer, auf dem Waschtisch, ĂŒbernachtete und mich dann frĂŒhmorgens anstrahlte oder anklapperte? Doch mĂŒssten dafĂŒr nicht erst noch einige andere ZĂ€hne entfernt werden? Ich war doch erst ein elfjĂ€hriger kleiner Junge!

Und was wĂŒrden erst meine Eltern sagen? Erwartete mich ein Donnerwetter, eine Schimpftirade? WĂŒrde es SchlĂ€ge geben? Was wĂŒrde sie das kosten, dass sie meine ZĂ€hne reparieren lassen mussten? Über Geld sprach man mit uns Kindern zuhause kaum. Wohl deswegen, weil auch kaum welches da war, ĂŒber das man hĂ€tte reden können.

Ich hatte Angst, eine richtig große Scheiß-Angst. Ich hob meine Geldbörse und die beiden Splitter vom Boden auf, stieg aus dem Mini-Scooter und trottete davon. Ob ich mit meinen Freunden noch Worte wechselte, weiß ich nicht mehr. Vermutlich nicht. Vermutlich schauten sie mir erstarrt und sprachlos nach, wĂ€hrend ich gedankenverloren und wortlos davonwankte.

Die an sich nur eineinhalb KM lange Strecke nach Hause war diesmal 10 Mal so lang. Immer wieder blieb ich stehen und wischte mir mit dem einzigen Taschentuch, das ich bei mir hatte, Blut ab. Und immer wieder tastete meine Zunge die ZĂ€hne ab – in der Hoffnung, dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Doch nein, das war kein Traum. Da fehlte was. Die Zunge fand nur eine schroffe, zerklĂŒftete Klippe vor, wo eine glatte FlĂ€che und eine gerade Kante sein sollten.

Ich stieg die Treppe im Mehrparteienhaus hoch. Öffnete mit meinem SchlĂŒssel die TĂŒr und ging hinein. Leise ließ ich die TĂŒr wieder ins Schloss fallen und drehte mich um – und blickte in das entsetzte Gesicht meiner Mutter.

© Andreas Trimmel 2021-11-13