von Marianne Frank
Zugegeben, mit der Frage „was wäre, wenn“ stößt man nicht überall auf Begeisterung. Was hilft es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, die Dinge sind eben, wie sie sind. Wir sind hier schließlich nicht bei wünsch dir was, sondern bei so isses, würden mir manche antworten.
Trotzdem beschäftigt mich der Gedanke immer wieder, wie anders ein Leben verlaufen kann, wenn man nur eine Entscheidung anders trifft, einmal zum richtigen oder falschen Zeitpunkt am richtigen oder falschen Ort ist, einmal das nötige Quäntchen Glück hat oder es einen eben im Stich lässt.
Ich frage mich, was wohl aus mir geworden wäre, wäre ich nicht in Wien, sondern woanders auf der Welt geboren. In Kabul beispielsweise. Oder in Hanoi, New York oder Lima. Der Ort der Geburt ist ja schließlich nicht das Ergebnis eigener Leistung oder Überlegung. Er ist – ja, was ist er eigentlich? Zufall? Schicksal? Glück? Das vergessen manche wohl von Zeit zu Zeit, von der Stammtischtruppe bis hin zum Innenminister.
Ich wurde in eine liebevolle Familie hineingeboren, in der Bildung großgeschrieben wurde. Wie wäre alles gekommen, wenn meine Eltern der Meinung gewesen wären, Bildung sei für ein Mädchen nicht wichtig. Hätte ich die Stärke gehabt, meine Ausbildung alleine gegen den Willen meiner Eltern durchzusetzen? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Selbst wenn mich meine Eltern nur in eine andere Schule geschickt hätten, wäre vieles heute anders. Meine engsten Freundinnen kenne ich seit meiner Schulzeit. Sie wären nicht Teil meines Lebens. Ich hätte manche Reise nicht gemacht, wäre woanders feiern gegangen und wer weiß, welchen Einfluss sie noch auf mich hatten und haben, der mir vielleicht gar nicht so bewusst ist. Mit wem wäre ich wohl heute befreundet? Wo wären wir zusammen gewesen, was hätten wir erlebt? Hätte ich, eingebettet in einen anderen Freundeskreis, heute auch einen anderen Job, andere Ansichten, andere Gewohnheiten?
Manch einer hat vielleicht diesen einen Abend erlebt, wo er, wenn er einfach zu Hause geblieben wäre, wie er eigentlich wollte, anstatt auszugehen, niemals jenen Menschen getroffen hätte, mit dem er heute auf der Couch sitzt, umringt von Kindern, die es nicht gäbe, wäre er damals wirklich daheim geblieben. Manch eine wäre vielleicht noch verheiratet, hätte sie an diesem einen verhängnisvollen Abend nicht die Entscheidung getroffen, sich auf jemand anderen einzulassen. Wieder andere wären gar nicht mehr bei uns, wären sie damals nicht zu spät am Flughafen gewesen und hätten ihren Flieger versäumt, der nie am Ziel ankam.
Und wäre eine gute Freundin von mir vor ein paar Wochen an einem Freitagnachmittag einfach nicht aus dem Haus gegangen, oder woanders hingegangen oder auch nur 5 Sekunden schneller gewesen, dann hätte sie das Auto nicht in jenem Moment an jenem Ort erwischt und schwer verletzt.
Es ist eben manchmal eine Entscheidung, ein Moment, ein Glücksfall oder vielleicht ein Wink des Schicksals, der alles verändern kann.
© Marianne Frank 2021-08-22