von Bernd Lange
Hannah mag ihr sonntägliches Ritual; obwohl es kein Paradies verspricht, ihre Sauna – ein Zweckbau, vernünftig, ordentlich und absolut unerotisch. Keine Voyeure, keine Zurschausteller – Hannah schwitzt in destillierter Reinheit. Sie fühlt sich aufgehoben in der dämpfigen Schweigelust und dem leidenschaftslosen Herumhängen ihrer Gedanken im Mikrokosmos von unbegrenzter Belanglosigkeit.
An diesem Sonntag sollte es anders kommen. Schon im aseptischen Durchgang von der Kasse zu den Saunaräumen wird Hannah eine Veränderung bewusst. Obwohl sie nicht erkennen kann, was es ist – sie nimmt wie immer die makellose Reinheit des Bodens und der Wände wahr –, spürt sie den Hauch eines verwandelten Gefühls. Ein zaghafter Duft spielt ihr eine Melodie, die nur derjenige hört, dem die banalen Geräusche des ständig wiederkehrenden Alltags noch nicht wie das unerbittliche Prasseln von Hagelkörnern im Trommelfell der Gehirnwindungen vorkommen. Hannahs Atmen stolpert über die Unberechenbarkeit ihres Überraschtseins.
Die sich überlagernden Duftschichten in der Sauna haben, auch wenn sie etwas Sublimes offenbaren, eine eigene Gesetzmäßigkeit. Schicht um Schicht wabern gewohnte Aromaschwaden von Eisminze, Birke, Orange, Kiefernadel – gewöhnliche Wahrnehmungsaccessoires, so gut wie reizlos. Heute ist es anders: Ein berauschender Duft umarmt Hannah, ihre Gedanken fangen an zu glühen. Mango-Maracuja, liest sie im Vorbeigehen zum Dampfbad – interessant, denkt sie, ich gehe ins 45 Grad Subtropische, um mich abzukühlen.
Wie vom Schlag getroffen erstarrt sie. Vor ihr steht er, der Mann ihrer Träume. Nackt, das Ideal eines männlichen Wesens, formvollendet, ihr Adonis. Erschrocken erregt, flüchtet sie ins neblig Dampfige. Nur langsam gewöhnen sich ihre Augen daran … sie erkennt, sie ist alleine. Nicht ganz, aus dem heißdampfenden Nebel schwebt ihr Adonis auf sie zu.
Sanft streichelt er ihr übers Haar, lässt seine Fingerspitzen über ihren feuchten, heißen Körper gleiten, seine Hände ruhen eine Weile auf ihrer Haut, dort, wo sie für erregende Momente besonders empfänglich ist. Sein Fühlen wird tiefer, geht unter die Haut, erlaubt rhythmische Schwingungen, Hannah ist von Sinnen. Sie und ihr Adonis sind ineinander verschmolzen, ihre Körper werden zu Milch und Honig. Ein einziger rauschender Gedanke, der aus ihren Poren dringt: Ich bin eins mit mir, zwei mit dir, und mit einem Male eins mit dir.
Ihren pulsierenden Schrei des Höhepunktes verschluckt die feuchte, schwüle Dichte im Dampfbad. Irgendwann erkennt sie, dass sie alleine ist, mit sich, die Hände tief in ihrem Schoß vergraben.
Taumelnd verlässt sie das Dampfbad. Da steht er, ihr Geliebter, ihr Amant, ihr Adonis, unbeweglich, versteinert, marmorn, in seiner ganzen Schönheit. Am Fuße der Skulptur sieht Hannah ein Schild – sie liest, ohne zu verstehen: »Geliebter der Aphrodite. Unbekannter Künstler. Leihgabe des Städtischen Museums für Antike Kulturen.«
© Bernd Lange 2020-11-13