weggerannt

Lorraine LaNuit

von Lorraine LaNuit

Story

Die Erinnerungen an mein vorheriges Leben zerbrechen immer mehr. Wie Glasscherben schweben sie durch meinen Kopf, einige sind bereits verloren gegangen. Viele der übrig gebliebenen Scherben sind scharf, schneiden schonungslos und schmerzhaft immer mal wieder ungefragt durch meinen Alltag, während sich die Guten, geglättet und glitzernd, gelassen verstecken und nur selten blicken lassen. Denke ich an die Zeit in meinem Heimatland, so verwandeln sich die Scherben in einen dichten Nebel, in dem sich nur unter größter Anstrengung klare Erinnerungen ausmachen. Das menschliche Gehirn kann ganz bewusst negative Erlebnisse unterdrücken und verdrängen – ein Abwehrmechanismus, durchaus sinnvoll und auch notwendig, eingerichtet von der Natur. Ganz nach dem Motto „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist.“ Allerdings ist hier Vorsicht geboten. Wo das Beiseiteschieben nicht mehr als probate Lebensbewältigung durchgeht, stattdessen krank macht, beginnt die pathologische, dunkle Dimension der Verdrängung. Denn ganz vergessen können wir nicht, lediglich unserem Bewusstsein den Zugriff verweigern, während sich die Erinnerung in den seelischen Untergrund verabschiedet, von wo sie im Verborgenen weiter (gegen uns) arbeitet. Während der Großteil der Menschen diese Gratwanderung zu meistern scheint, bin ich daran gescheitert. Ich bin ein Meister des Verdrängens. Über Jahre habe ich diese ‚Fähigkeit‘ perfektioniert. All das Schlechte (teilweise selbst die schönen Dinge), habe ich immer und immer wieder so weit nach unten, in den tiefsten Abgrund meines Seins geschickt, dass sich ein gewisser Automatismus eingestellt hat. Alle Erlebnisse werden sofort verbannt, es findet keine gesunde Auseinandersetzung mehr statt, ich gebe meinem Kopf nicht einmal die Chance, etwas auf natürlichem Wege zu verarbeiten und abzuschließen. Aber irgendwann ist Ende. Irgendwann ist das Maß voll.

„Du kannst deinen Problemen nicht davonrennen, sie werden dich einholen.“ So, oder in ähnlicher Ausführung, haben wir alle diese Redewendung schon einmal gehört. Eine Lebensweisheit mit hohem Wahrheitsgehalt. Aber Ausnahmen bestätigen die Regeln, oder nicht? Ich hab’s ganz einfach probiert. Ich bin weggerannt. Umgesiedelt. Untergetaucht. Viel zu lange habe ich mich von falschen Entscheidungen und falschen Freunden fehlleiten lassen. Viel zu lange habe ich blind und wortlos alles geschluckt, was stattdessen hätte herausgeschrien werden müssen. Erst mit dem Rücken an der Wand und einer blutigen Rasierklinge in der Hand kam die Einsicht, dass sich nichts ändern wird, bleibe ich in diesem meinem gewohnten Umfeld. Meine einzige Möglichkeit ist abzuhauen, um den Menschen zu entkommen, die mir nicht guttun, um den Orten zu entfliehen, die nicht eine einzige positive Erinnerung hervorbringen. Ich habe damit definitiv die richtige Entscheidung getroffen, doch hat sie nicht dafür gesorgt, dass sich meine Angelegenheiten sofort in Luft auflösen, sondern mich nur von den negativen, äußeren Einflüssen befreit. In meinem Kopf hat der Sturm weiter gewütet. Und genau das scheint es zu sein, was dieses Sprichwort vermitteln will. Egal wie weit man rennt, seinen Kopf hat man auf jedem Meter dabei; solang dort oben nicht aufgeräumt wird, sind alle Sorgen und Probleme und negativen Gefühle ein treuer Begleiter auf diesem Marathon.

© Lorraine LaNuit 2023-08-09

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Hoffnungsvoll