von Jürgen Heimlich
Für vier oder fünf Jahre gab es ein Weihnachtsritual, das mich in Bann hielt. Am späten Vormittag sah ich mir den Film „Die unsterblichen Tucks“ an. Erstmals muss das 1982 gewesen sein. Ich war ein Kind von 11 Jahren und fasziniert vom Grundthema des Films. Eine kleine Familie hatte schon vor Jahrhunderten eine Quelle entdeckt. Wer vom Wasser trinkt, wird unsterblich. Die Tucks lebten als Familie also schon seit Jahrhunderten, das ließ sich daraus schließen. Die Geschichte erzählt auch davon, dass ein mieser Kerl von dem besonderen Wasser erfährt und mit diesem Wissen zu Reichtum gelangen will. Ich stellte mir die Frage, wie es wäre, unsterblich zu sein. Nicht sterben zu können musste der pure Horror sein. Das habe ich mir schon gedacht, bevor ich Stephen King zu lesen begann. Im Alter von fünf Jahren war ich mir meiner Sterblichkeit bewusst geworden. Damals hatte ich erstmals ein Begräbnis besucht und war sogar eingeladen worden, meine verstorbene Tante noch einmal zu sehen. Die Familie Tuck durchwanderte die Jahrhunderte und wirkte fröhlich.
Wer unsterblich ist, muss damit umgehen lernen. Haben das die Tucks geschafft? Ich konnte mir das als Kind nicht vorstellen. Über Jahrhunderte am Leben zu bleiben? Hatte ich damit anderen Menschen etwas voraus? Die Tucks waren irgendwie „anders“, sie mussten auch sehr viel Wissen erworben haben. War für diese vier Menschen nicht der größte Wunsch, endlich sterben zu können? Solche Fragen haben mich als Kind beschäftigt. Der Film hat viele Zwischentöne. Und es ist der Zuschauer, der sich daraus seinen Reim machen soll. Mich faszinierte ja allein schon der Titel „Die unsterblichen Tucks“. Denn das hieß ja, dass diese Menschen tatsächlich NIE sterben würden. Dadurch geht die Einzigartigkeit des Lebens verloren. Wer sterblich ist, hat eine begrenzte Zeit zur Verfügung, um sein Leben zu gestalten. Ich war damals so ziemlich am Beginn meines Lebens. Scheinbar noch weit davon entfernt, zu sterben. Und möglicherweise führte die Sichtung des Films dazu, dass ich am letzten Tag des Jahres meinen Eltern sagte: „Wer weiß, ob ich morgen noch am Leben bin.“ Ja, irgendwie konnte doch jeder Tag der letzte Tag meines Lebens sein. Und am letzten Tag des Jahres, eine Woche nach dem Heiligen Abend, keimte dieser Gedanke verstärkt in mir auf.
Unsterblichkeit ist das Gegenteil von Ewigkeit. Das denke ich mir heute. Denn, wie es Viktor Frankl so schön formulierte: „Ewigkeit ist die Abwesenheit von Zeit.“ Manche Wissenschafter träumen davon, den Menschen unsterblich zu machen. Das ist eine bizarre Vorstellung. „Der Tod ist der große Gleichmacher“, sagt ein altes spanisches Sprichwort. Die Tucks sind zur Unsterblichkeit verdammt. Und am Ende des Films entscheidet sich eine Frau, die von der Quelle weiß, gegen die Unsterblichkeit. Ihr Grabstein verdeutlicht, dass nur der Tod ein Leben vollenden kann.
© Jürgen Heimlich 2020-12-13