von anima
Jedes Jahr, wenn ich unserenWeihnachtsbaum schmücke, oder ihn nach den Feiertagen vom Schmuck befreie, denke ich an einen Patienten zurück. Ich nenne es Weihnachts-Schattenspiel.
Die Sonne sandte ihre winterlich zarten Strahlen in das Krankenzimmer, übergoss mit ihrem silbernen Licht den kleinen, mit Lametta geschmückten Tannenbaum.
Ich teilte die Medikamente aus, war nicht in Eile. Herr Ingenieur Vohn stand vor dem Christbaum und holte eine Glaskugel um die andere herunter-
Ich ordnete sein Bett und fragte:
„Kann ich Ihnen helfen?“ Erschrocken wandte er sich mir zu:
„Danke, Schwester, ich mache das gern allein. Ich habe ja Zeit, und vielleicht ist dies mein letzter Weihnachtsbaum.“ Wieder langte er nach einer Glaskugel und legte sie in den Karton zurück.
Da schob ich mich leise durch die Tür, ging über den glänzend-frisch gebohnerten Fußboden des Ganges zum Dienstzimmer. Dort holte ich aus der Kartei seine Krankengeschichte. Unheilbar.
Es klopfte. Frau Vohn stand vor mir.
Auf ihrem Arm den sechs Monate alten Sohn.
„Guten Morgen, Schwester, wie geht es meinem Mann?“
„Guten Morgen, Frau Vohn. Ihr Gatte holt soeben die Kugeln vom Baum“. Jeden Tag dieselbe Frage, bevor sie in das Zimmer ging. „Oh, danke!“, sagte sie erleichtert.
Die Stationsschwester sie sah die Blätter auf dem Tisch.
„Ist etwas?“ fragte sie.
„Nein, es ist nichts. Ich habe nur wegen der Diagnose nachgesehen.“
“ Wussten Sie es nicht?“
„Nein!“ Ich war ja nur zur Aushilfe auf dieser Station tätig. Die Schwester sagte, dass auch der Junge krank sei. Der Frau war dir Diagnose bekannt, es gab nur kurze Zeit noch zu leben.
Als ich mittags in das Zimmer kam, stand der Baum nackt auf dem Tisch. Der Mann lag erschöpft im Bett. Seine Augen waren matt. Das Kind spielte auf dem Schoße seiner Mutter. Die Sonne hatte dem Zimmer ihr Licht entzogen.
Nach meinen freien Tagen kam ich wieder auf diese Station. Vorsichtig öffnete ich die Türe von Nr. 7. Leere gähnte mir entgegen, und ein süßlicher Geruch strömte durch den Raum.
Mir war, als würde ich in eine Schlucht spiralförmig abwärtsgezogen. Es toste in meinem Kopf. Fluchtartig verließ ich das Zimmer, schloss mich im Badezimmer ein und ließ kaltes Wasser über meine Hände fließen.
Im Inneren begann ein schmerzlicher Prozess: Tod, Gott und dem Sinn des Lebens.
Und wenn ich zu Weihnachten meinen Baum schmücke oder ihn dann vom Schmuck befreie, kommt es mir vor, als stünde Herr Vohn vor mir: „Vielleicht ist das mein letzter Christbaum.“ Dann lege ich die Glaskugeln und das Lametta sehr zart, in Gedanken versunken in die Pappschachtel.
Manchmal sendet die Sonne ihre warmen Silberstrahlen in diese Stunden, und ich sehe, wie auf dem Fußboden das Neigen der Äste, die schaukelnden Kugeln und das Lametta sich zitternd widerspiegeln. Ich nenne es mein Weihnachts – Schattenspiel.
© anima 2020-12-02