Flur voller Möglichkeiten 4

Carolin Rosenberg

von Carolin Rosenberg

Story

„Ich habe heute eine Spätschicht“, sagte Danny während er an seinem Kaffee nippte.

„Mach keinen Mist während ich weg bin“, meinte er und schaute zu mir herüber. Ich war damit beschäftigt in meinem Notizbuch zu kritzeln.

„Werde ich nicht“, sagte ich augenrollend, ohne meinen Blick zu heben.

„Bist du mit allem für die Schule fertig?“, fragte mein Bruder. Mein Stift stoppte ruckartig auf dem Papier. Ich nickte Danny zu. Damit wollte ich ihn beruhigen, denn in Wahrheit hatte ich noch nicht einmal mit dem Plakat angefangen, dass ich bis morgen machen musste.

„Das ist gut. Ich bin stolz auf dich. Ich weiß wie schwer das zurzeit alles für dich ist.“

Ich antwortete nichts darauf. Er hatte recht, der Umzug in diese winzige Wohnung war grauenvoll gewesen, aber es war das einzige, was Danny bekommen hatte. Für mehr reichte das Geld nicht. Mit einem Vater der nie da war und einer Mutter, die sich auf ihre Therapie konzentrieren musste, war es schwer.

„Soll ich dich noch irgendwo hin mitnehmen, wenn ich losfahre?“, riss mich Danny aus meinen Gedanken.

„Kannst du mich zur Bibliothek fahren?“ Meine Augen begannen zu leuchten und ich legte meinen Stift endgültig zur Seite.

„Das ist ein riesiger Umweg“, stöhnte Danny.

„Wenn wir jetzt losfahren schaffen wir es.“

„Aber beeile dich und nimm dein Handy mit. Ich will nicht, dass du ohne unterwegs bist, wenn du heute Abend den Bus zurück nimmst.”

Nachdem ich meine Tasche gepackt hatte, öffnete Danny die Wohnungstür vor mir und ich lief in den Flur. Ich wusste, was mein Bruder jetzt vor sich sah. Für ihn war dieser Flur grau, die Risse in den Wänden ein hässlicher Anblick und der abgeblätterte Putz schäbig. Ihm machte es Schuldgefühle mich in so einem Umfeld großzuziehen. Ich merkte es an der Art wie er mich ansah. Mir machte es nichts aus, denn ich sah einen Flur der mir Geschichten erzählte.

Die Risse waren der Zugang in eine andere Welt, einer in der die Bäume so bunt waren wie hier im Herbst die Blätter. In dieser anderen Welt gab es ein riesiges Königreich mit allen möglichen Gestalten und Kreaturen.

Nur ich konnte sehen, wie in diesem Moment aus den Rissen an der Wand bunte Ranken und Pflanzen sprossen. Sie beschützen den Eingang zum Königreich und schmückten den grauen Gang mit Farben.

Der Putz, welcher abgebröckelt auf dem Boden lag, verwandelte sich für mich in weiße Blütenblätter. Ich stellte mir vor, dass der Müll und die alten Zeitungen, die in den Ecken lagen, aussortierte magische Gegenstände waren.

Es brauchte nur meine Vorstellungskraft um eine ganz neue Umgebung in diesem trostlosen Flur zu schaffen.

© Carolin Rosenberg 2023-01-22

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