von Theodor Leonhard
Der Wein funkelte in den Gläsern zwischen ihnen. Kerstin hatte sich bei ihrem inzwischen dritten Date einen lieblichen Rosé bestellt. Wenn sie Wein genießen wollte, dann war sie durchaus experimentierfreudig. Aber es musste immer ein Rosé sein. Vor Christian stand ein Glas kräftiger Roter. Er hatte schon viel ausprobiert. Inzwischen konnte er sich keine Gelegenheit mehr vorstellen, bei der er lieber einen anderen Wein trinken würde als einen kräftigen Roten. Noch mehr als der Wein in ihren Gläsern, funkelten verliebte Gefühle zwischen ihnen herüber und hinüber. Ihre Augen strahlten und ihre Gesichter nahmen zunehmend eine Farbe zwischen einem zartem Rosé und einem kräftigen Rot an. Sie gaben keine Ruhe, die Schmetterlinge in ihrem Bauch, auch dann nicht, als die zweiten Gläser schon längst genossen waren.
Als Paar besuchten sie ein paar Tage später das bekannte Weinfest in ihrer Stadt. Bei der Bestellung kam es nicht, wie es kommen musste. Es kam, wie es nur die Liebe kann. “Ich versuche heute einen kräftigen Roten. Ich möchte einfach einmal Deinen ”weinischen Geschmack“ kennenlernen und nachempfinden“, meinte Kerstin. (Das Rechtschreibprogramm schlägt an dieser Stelle “schweinischen Geschmack” vor. Das ist natürlich weit von jeglicher Realität entfernt.) “Ich liebe Dich. Vielleicht liebe ich ja auch Deinen Wein! Welchen empfiehlst Du mir?” Christian konnte sich dem “einfühlsamen“ Gedanken seiner Partnerin nur anschließen und fragte Kerstin seinerseits nach einem schmackhaften “Rosé”, den er probieren wollte. Vom ersten Schluck an bis zum Nachhauseweg bewunderten sie sich gegenseitig wortreich für den Geschmack, den der und die andere hatte. “Dass ein kräftiger Roter so anregend schmecken kann!” … – “Dass ein Rosé so verführerisch den Gaumen kitzelt!“ … Nur klammheimlich dachte jeder für sich: “Wäre ich doch bei meinem Wein geblieben!”
Die Hochzeitsplanung stand an, damit auch die Auswahl des Weins, der den Gästen kredenzt werden sollte. Bei aller Liebe zu ihren Geschmäckern, das war für Kerstin und Christian klar: Weder ein Rosé noch ein kräftiger Roter durften dabei sein. Der kräftige Rote wäre ein zu starkes Signal dafür gewesen, dass in dieser Ehe vor allem Christian “das Heft in der Hand haben” will. Ein Rosé hätte den Verdacht aufkommen lassen, als wolle in erster Linie Kerstin “die Hosen anhaben”. Einem unausgesprochenen Wettbewerb, wer von ihren Gästen welchem ihrer Wein-Geschmäcker am ehesten zu-prosten würde, mussten sie von vornherein vermeiden. Ganz auf Augenhöhe wollten sie ihr gemeinsames Leben und ihre Liebe gestalten. Da durften ihre persönlichen Vorlieben nicht im Weg stehen. Also entschieden sie sich für – Weißwein. Die Gäste lobten die unorthodox-einseitig weiße Auswahl des Rebensafts, genau passend zu den sonstigen kulinarischen Genüssen.
Nur Kerstin und Christian schmeckte der Wein ziemlich sauer. Vielleicht kommen sie ja wieder auf ihren persönlichen Geschmack!?
© Theodor Leonhard 2022-08-22