Wendigo – Teil 1

Lukas Bächle

von Lukas Bächle

Story
1789

Oktober 1789

Die Gegend war zu großen Teilen unerforscht und daher war es für Michael nur naheliegend gewesen, sich einen Reisegefährten zu suchen. Da er nicht vorgehabt hatte, über Straßen zu reisen, hatte er in dieser Hinsicht nicht wählerisch sein dürfen. Nicht, dass es ihn groß gestört hätte, dass der Mann vor ihm eine dunkle Hautfarbe hatte. Dennoch – es hatte niemand anderes in dem Städtchen Interesse daran gezeigt, sich meilenweit durch die Wildnis in Richtung Norden zu schlagen. Der Name seines Reisegefährten war George, zumindest hatte der Mann sich selbst so genannt. Michael vermutete, dass er ein flüchtiger Sklave war, hatte aber selbst auch kein Interesse daran, nach Süden zurückzukehren.

Auf dem gesamten Weg sprachen die beiden kaum miteinander. Jeder schien sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. Als es dämmerte, wurde Michael langsam bewusst, dass er bisher noch nie ohne Verwandte oder Freunde unter freiem Himmel geschlafen hatte. Erinnerungen wurden ihn ihm wach. Erinnerungen an die Geschichten und Sagen eines alten Ureinwohners, den er in einer kleinen Siedlung in Virginia getroffen hatte. Michael gab sich allergrößte Mühe, diese Geschichten wieder zu verdrängen, während sie den schmalen Pfad hinaufstiegen. Seinem Reisebegleiter schien die Dunkelheit weniger auszumachen oder zumindest konnte Michael bei ihm keinerlei Nervosität feststellen.

Einen Augenblick lang glaubte Michael, auf der Spitze eines nahen Hügels eine menschliche Gestalt auszumachen, doch als er genauer in diese Richtung blickte, sah er nur hohe Nadelbäume.

„Was sehen Sie?“, fragte George plötzlich und durchbrach damit die Stille.

„Ich weiß nicht“, antwortete Michael unsicher, „Ich dachte, da sei jemand gewesen.“

„Das dachte ich auch“, meinte George und blickte in beinahe dieselbe Richtung, in der Michael kurz die Gestalt eines Menschen erspäht hatte.

Da sie beide niemanden entdecken konnten, gingen sie weiter, waren jedoch misstrauischer als zuvor. Als es Nacht wurde, suchten sie Unterschlupf auf einer abgeschiedenen Waldlichtung in einem kleinen Tal. Zuvor hatten sie sich quer durch den Wald geschlagen. Niemand von ihnen hatte es laut ausgesprochen, doch beide hatten sie sich vor Verfolgern gefürchtet.

Als sie sich auf die Erde legten, nur ihre Mäntel als Decken über sich ausgebreitet, spürte Michael plötzlich einen bohrenden Blick in seinem Nacken. Vorsichtig blickte er sich um, aber er konnte niemanden entdecken. Sein Magen krampfte sich zusammen. Während er so dalag, spürte er immer größeren Hunger in sich aufsteigen. Hastig durchsuchte er seinen Rucksack und riss die wenigen Nahrungsmittel an sich. Ohne an etwas anderes als das Essen denken zu können, schlang er Brot und Käse hinunter. Die ganze Zeit spürte er den bohrenden Blick in seinem Nacken, der ihm inzwischen aber egal war. Die Vorräte waren vernichtet, doch er wollte – konnte – nicht aufhören zu essen. Eine tiefe raue Stimme flüsterte ihm zu, was er tun sollte.

© Lukas Bächle 2023-07-12

Genres
Romane & Erzählungen, Spannung & Horror
Stimmung
Abenteuerlich, Dunkel, Mysteriös, Angespannt, Adventurous
Hashtags