Wenn alles sich dreht …

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story
Tirol 2024

Eines Morgens wachte sie auf und die Welt drehte sich. Wie eine Schiffbrüchige oder gar Betrunkene schwankte sie durch den Tag. Das Gleichgewichtsorgan schien aus den Fugen geraten – kleine Kristalle im Gehörgang sind herausgefallen und sollten wieder an ihren Platz. Ja, wenn das so einfach wäre. Sie machte brav alle Übungen, aber der Drehschwindel blieb, mehr oder weniger. Sie gewöhnte sich daran und konnte gut damit leben, wie mit so einigen anderen Wehwehchen des Altwerdens.

Es war ein anderer Schwindel, der sie beschäftigte – ein Schwindel, der mit Fliehkraft zu tun hatte, mit Erregung, mit rasender Zeit. Wenn sie in die gleißenden weißen Berge schaute, wenn sie am Meeresufer wandelte und sich im unendlichen Horizont verlor, packte sie eine Unruhe, eine Sehnsucht, die ohne Ziel war und keine Erfüllung denkbar. Hatte es mit Vergangenheit zu tun oder mit Zukunft? Hatte es damit zu tun, was sie hätte sein können und nicht war, was sie hätte tun können und nicht tat, oder damit, was noch kommen könnte, kommen musste? Was lockte sie – das Vergangene oder das Zukünftige?

Weiß sie überhaupt noch, was sie will? Die Zeit verrinnt, das Ende rückt näher. Löscht dieser Gedanke das Wollen aus? Die Absurdität des Wollens macht sich bemerkbar. Es ist so wurscht, ob sie diesen Berg noch einmal erklimmen kann, ob sie die Nordlichter noch zu sehen kriegt oder die Düfte Sansibars erleben darf.

Nicht Resignation macht sich breit, weil manches nicht mehr möglich ist, sondern eher ein Gefühl von Unwichtigkeit. In ihrem Bewusstsein kann sie sowieso alles erleben. Alle Träume der Jugend in der Fantasie verwirklichen. Ihr Bewusstsein hat sehr genaue Bilder, ohne es erlebt zu haben. Unendlich vieles andere hatte sie erlebt und bleibt für immer in ihrem Gedächtnis. Die Erinnerungen haben eine leuchtende, schwebende Leichtigkeit, die sie heraushebt aus dem mühsamer werdenden Alltag. Natürlich ist da noch viel Schönes, Lebens- und Liebenswertes. Dies soll kein Abgesang sein, sondern viel mehr eine Hymne an das Leben, das in jeder Lebensphase stattfindet.

Es ist nur so schnell geworden, schneller vergeht der Tag, die Jahreszeit, das Jahr. Die Blumen verwelken, kaum dass sie erblüht sind. Die Kinder gehen ihrer Wege und man möchte sie noch als Baby im Arm halten.

Das Karussell dreht sich schneller und schneller hat Michael Heltau nach einem Chanson von Jacques Brel gesungen – und sie fliegt mit.

Mit dem ersten Glockenzeichen, da weiß ich nicht mehr wer ich bin, da verliert mein Name seinen Sinn. Da ist in mir nichts mehr zu halten, jeder Nerv vibriert – alles geht so schnell. In mir dreh’n sich viele Gestalten und irgendwas fährt mit mir Karussell. Wenn alles sich dreht. Ja, wenn sich alles dreht. Da will die Fantasie, dass dieser Schwindel nie an dir vorübergeht! Bevor dein Spiel beginnt, bist du wie ein Kind, dem sich vor einem Bild der große Traum erfüllt, dass Bilder Leben sind.“


© Christine Sollerer-Schnaiter 2025-02-08

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Inspirierend, Reflektierend