von Franz Brunner
Sie liegen jetzt völlig falsch. Ich meine nicht die Anprobe im ModegeschĂ€ft ihres Vertrauens, wenn Sie wĂ€hrend des Auswahlverfahrens zur traurigen Erkenntnis kommen: Die bisherigen MaĂangaben stimmen bedingt durch einen unerklĂ€rlichen Zugewinn an Masse mit den aktuellen MaĂen nicht mehr ĂŒberein. Die Haut ist zu eng, die SchuhbĂ€nder sind zu weit weg oder gar durch den Schwimmreifen um die Körpermitte boshaft verdeckt. Nein, dieses MaĂ meine ich nicht. Eher von UnmĂ€Ăigkeit soll die Rede sein und davon, dass das MaĂ nun voll ist.
Ich liege nach getaner Gartenarbeit zufrieden am RĂŒcken, mitten am frisch gemĂ€hten Rasen. Den Blick vertrĂ€umt gegen den Himmel, der definitionsgemÀà oben ist, gerichtet. Genauere Angaben unterliegen dem Datenschutz und spielen zudem fĂŒr die weitere Abhandlung keine Rolle. Hauptsache, der Blick nach oben ist frei. Die Wolkendecke ist dicht, ich tippe auf etwa 95 % Bewölkung, es kann mir ja keiner anderes beweisen. Der Wind treibt die Wolken flott und beharrlich von West nach Ost. Und dann sind sie plötzlich da, die kleinen blauen Flecken am Himmel. Es sind nur wenige, drei oder vier davon tummeln sich in meinem Blickfeld. Und genau das macht sie fĂŒr mich interessant.
Drehen Sie den SpieĂ um, so ist der Effekt der gleiche. Wenn der Himmel einige Tage hintereinander strahlend blau ist, sind auf einmal die kleinen Wolken interessant. Wie diese mystisch wie aus dem Nichts entstehen, sich aufbauen, zusammenrotten und auf unerklĂ€rliche Weise wieder verschwinden, das beflĂŒgelt die Fantasie. Weniger ist oft mehr, meint der Volksmund wissend. Und das trifft’s wohl auf den Punkt. Der Reiz liegt im Mangel, an der Entbehrung und der Vorfreude.
Oder die Sache mit dem Schnitzel, da ist’s genauso. FrĂŒher war Wiener Schnitzel in den meisten Familien ein Sonntagsessen, einmal im Monat, eine Besonderheit. Heute kann man in jedem Möbelhaus, wenn man will tĂ€glich, ein Schnitzel um 5 Euro ergattern, wenn auch QualitĂ€t und Esskultur dabei auf der Strecke bleiben. Der durchschnittliche Konsument, der legendĂ€re Normalverbraucher, hat das MaĂ fĂŒr die Ausgewogenheit von Notwendigkeit und Besonderheit verloren.
Er kann alles haben, zu jeder Zeit an jedem Ort, er diktiert auĂerdem forsch den Preis. Die QualitĂ€t ist zweitrangig, die bestimmen ohnehin die anderen, die Produzenten und Lieferanten. Die sind meist weit weg und fĂŒr Diskussionen nicht zu haben. Und jetzt hat uns dieser kleine COVID-Teufel vor Augen gefĂŒhrt, dass vieles nicht mehr passt, das MaĂ nicht mehr stimmt. Jeder möchte zu viel von allem haben und dafĂŒr möglichst wenig bezahlen. Der Wert der Dinge geriet ins Wanken. Gerade bekommen wir die Rechnung prĂ€sentiert, unterm Strich durchwegs bedenkliche, teils erschreckende Ergebnisse.
Nein, nicht die Ergebnisse sind falsch, die Eingaben sind es. Der Fehler liegt ausschlieĂlich bei den Eingaben und kaum einer willâs glauben. Gerade ĂŒberkommt mich das dumpfe GefĂŒhl, dass es bereits 5 nach 12 ist.
© Franz Brunner 2021-08-05