Wenn der Tag die Nacht ablöst

Isabell Beenker

von Isabell Beenker

Story

Die Tautropfen glitzern im Schein der aufgehenden Sonne und Leslie weiß, das sie lebt.

Jeder Tag beginnt auf die gleiche Weise. Meist ist es ein Windhauch, der sie weckt, heute war es das Kitzeln eines Sonnenstrahls auf ihrer Nasenspitze.

Dann gleiten ihre Beine vom Bett und tragen sie, noch ein wenig zittrig, über den alten knarrenden Holzboden runter in den Garten.

Schon während sie das Holz unter ihren Füßen spürt, jede kleine Erhebung wahrnimmt und die Lebendigkeit die noch immer in den alten Dielen steckt fühlen kann. Füllt sich ihr Körper mehr und mehr mit Freude. Die kleinen Härchen auf ihren Armen stellen sich auf und ihre Schultern durchzuckt ein zartes Kribbeln. Manchmal wippt sie dann auf dieser einen knackenden Treppenstufe ein bisschen länger hin und her, nur um des Momentes willen.

Bald spürt sie kein Holz mehr unter ihren Fußsohlen, der warme, weiche Charakter des Bodens verändert sich, er wird unnachgiebig und kühl. Sie dreht sich um, im frühen Schein des Morgens kann sie ihre Fußabdrücke auf dem kalten Fliesen der Küche erkennen. Wie Schatten erinnern sie noch ein paar Sekunden daran wo sie gerade stand und im nächsten Moment sind auch sie verflogen und es zählt nur noch wo sie jetzt steht.

Sie schließt ihre Augen und zieht ihre Zehen zusammen, wippt ein wenig vor und zurück und lässt ihren Atem laut entströmen. Wenn sie stehen bleibt werden die Fliesen warm, sie verlieren ihren kalten Charakter und lassen sich von ihr wärmen.

Die Küche liegt noch im Dunkeln, nur langsam gleitet die morgendliche frische in diesen Teil des Hauses, es ist ein schönes Gefühl bei dem Erwachen der Tage dabei zu sein. Schon brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die Terrassentür herein. Langsam drückt Leslie die Klinke nach unten, ohne einen Ton, gibt die Türe nach und öffnet sich.

Feuchtigkeit legt sich über ihre Zehenspitzen, weich und wie ein Teppich des Lebens so fühlt sich das taufrische Gras unter ihr an.

Mit all der Körperbeherrschung die sie aufbringen kann, ganz behutsam und vorsichtig, stellt sie nun ihren anderen Fuß in das saftige Grün. Das Jahr ist noch nicht alt und wenn sie mit einem kleinen seufzen ausatmet, sieht sie ihren Atem. Alles um sie herum bebt vor Lebendigkeit.

„Oma, was machst du den da? Du holst dir noch den Tod, barfuß und im Nachthemd draußen zu sein.“

© Isabell Beenker 2022-06-28

Hashtags