von Maria Büchler
Angelika war in derselben Hauptschulklasse wie ich. Sie wirkte auf uns ein wenig exotisch, zumindest ungewöhnlich. Einerseits, weil ihre Familie aus Hamburg stammte und sie einige norddeutsche Lieder wusste. Andrerseits, weil sie diese frei heraus zu Gehör brachte. Allein singen, das war für uns Mädchen in dem Alter bereits undenkbar. Ausser zu zweit, und dann auch nur die gerade aktuellen Songs.
Angelika war ein allseits beliebtes, fröhliches Kind. Sogar die Lehrer luden sie ein, sich an die Tafel zu stellen und ein Liedchen zu singen. Am liebsten trug sie «An de Eck steiht’n Jung mit’n Tüdelband» vor. Sie lächelte sogar beim Singen, und ihre Augen blitzten dabei übermütig. Wir freuten uns bei diesen Gelegenheiten natürlich auch darüber, dass der Unterricht kurzzeitig unterbrochen wurde.
Es gab aber noch ein anderes, das mir persönlich besser gefiel. Vielleicht deshalb, weil ich mit meinen Eltern oft in den Bergen war. Die beschriebene Szenerie sah ich vor mir, wenn Angelika schmetterte:
Wenn die Jemsen springen über Berjesjipfel,
singt der Jemsenjäger seine Haderschnüpfel.
Das war zwar ein Berliner Lied, aber wir kannten den Unterschied sowieso nicht. Zehn Strophen waren es. Besonders amüsierte uns die Stelle, an der die Sennerin dem Touristen weismacht, dass die Gämsenkötel frisch gelegte Eier seien und übers Jahr daraus kleine Gämslein schlüpfen.
Und ick kooft se teuer, doch ick ward betrogen
sie sind faul jewesen, Frollein hat jelogen
Schon sechs Jahr bewach ick sie zu Haus
keene Spur von Jemse kam heraus.
In Naturgeschichte war ich nie ein As und machte mir auch keine Gedanken über die Fortpflanzung der Tiere. Zudem hatte ich sie bereits gesehen, die kleine Gämsenfamilie mit dem halb ausgeschlüpften Jungen, das sich aus der Schale reckt, in einer Felsnische. Sie ist heute noch dort, wo man mit der Seilbahn zum Lünersee hochfährt. Vermutlich bei jeder Fahrt aufs Neue eine Attraktion für Flachländer.
Irgendwann später wurde ich im Unterricht geprüft zu den Alpentieren. Ich war schlecht vorbereitet und wusste bald nichts mehr. Nur eines kam mir noch in den Sinn. Ohne lange nachzudenken, beendete ich deshalb die Denkpause: «Die Gämsen vermehren sich durch Eier.»
Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, erhielt ich die Ermahnung, besser zu lernen, und setzte mich mit rotem Kopf. Ein Gutes hatte die Sache immerhin. Ich erhielt eine bessere Note, als ich eigentlich verdient hätte.
Bei unseren gelegentlichen Klassentreffen merke ich, dass meine Kollegen noch heute denken, ich hätte damals nur Spass gemacht. Sollte ich widersprechen?
Foto: Change.org
© Maria Büchler 2020-09-07