Wenn die Zeit stillsteht

Anne_Ladgam

von Anne_Ladgam

Story

„Was liest du da?“, fragte mein vierjĂ€hriger Sohn, als ich vor der Kirche die Todesanzeigen betrachtete. „Da ist ein Mann gestorben und die Familie erzĂ€hlt mit der Todesanzeige den anderen Menschen im Dorf von seinem Tod!“, antwortete ich und las weiter. „Wieso lacht der dann, wenn er gestorben ist?“, erwiderte mein Sohn mit fragendem Blick.

Seit diesem GesprĂ€ch habe ich eine andere Beziehung zu den Fotos auf Parten und ich frage mich, wie sich die Person fĂŒhlte, als sie fotografiert wurde. Hat sie dieses Foto bewusst fĂŒr die Todesanzeige gewĂ€hlt? War der Moment des Sterbens abzusehen auf diesem Foto? War sie glĂŒcklich in diesem Moment?

Todesanzeigen lesen sich fĂŒr mich fast wie eine Kurzgeschichte. Ich bin oft schockiert von den Gesichtern im mittleren Alter, mit welchen die Anzeige gestaltet ist. „Hilfe, das könnte ja ich sein!“, denke ich mir. Trotzdem bin ich fasziniert und angezogen, die Parten zu lesen. Welcher Spruch steht dort am Ende eines Lebens? Manche Texte sprechen mich so an, dass ich berĂŒhrt davon bin und die Worte in meinem Herzen versickern.

Durch viele UmzĂŒge kam ich im Lauf des Lebens oft in neue Orte und war wenig berĂŒhrt von den Todesanzeigen, die ausgehĂ€ngt wurden. Ich kannte schließlich niemanden. Erst als meine Mutter starb, musste ich miterleben, wie es sich anfĂŒhlt, als Angehörige einen Tod verkraften zu mĂŒssen. Nach den BegrĂ€bnisvorbereitungen musste ich zum Zug gehen, um zu meiner Familie zurĂŒckzufahren. Der Bestatter hatte uns informiert, dass er gegen Abend die Parten aushĂ€ngen wĂŒrde. Ich bat meine Schwester, mich durch den Ort zum Bahnhof zu begleiten. Es zerriss mir das Herz bei der Vorstellung, alleine zu sein, wenn Mutti im Vorbeigehen von den Anzeigetafeln herunter lachen wĂŒrde. Nur im gemeinsamen Gehen mit meiner großen Schwester konnte ich das ertragen.

Als mein Vater starb, war es anders. Er hatte die letzten Jahre im selben Ort wie ich gelebt und nun begegnete ich auf Schritt und Tritt Menschen, die mir kondolierten, mich umarmten, mir etwas Schönes von Vati erzĂ€hlten. Wenn ich an den Anzeigetafeln vorbei ging, lĂ€chelte er mir zu und der Segensspruch stĂ€rkte mich. Es war dann fĂŒr mich wie ein letzter Gruß von ihm. Es tat gut, vorbei zu gehen und ihn in meinem Alltag zu „sehen“.

Ich war traurig, als die Parten und die Danksagung nach kurzer Zeit verschwunden waren. Der liebevolle Blick grĂŒĂŸte mich nicht mehr.

Die letzte Parte, die mir bleibenden Eindruck machte, war mit einem Spruch von Jan Twardowski gestaltet:

„Beeilen wir uns, die Menschen zu lieben, sie gehen so schnell!“

© Anne_Ladgam 2022-10-19

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