Wenn ich groß bin

Ich werde dieses Jahr 35 Jahre alt. Als meine Mutter 35 Jahre alt war, war ich 15. Mit 15 hatte ich keine Ahnung, wie mein Leben als Erwachsene aussehen sollte. Es kam mir damals so unendlich weit weg vor. Meine Mutter war für mich eine alte Frau, die keine Ahnung von meinen Problemen und Sorgen hatte. Jetzt fühlt es sich so an, als wäre ich gerade erst gestern 15 gewesen. Nur ein Wimpernschlag. Plötzlich bin ich diese alte Frau, über deren Probleme und Sorgen ich mir mit 15 keine Gedanken gemacht habe. Erwachsene haben doch alles im Griff. Oder nicht? Sie können machen was sie wollen. Oder? Sie gehen arbeiten, verdienen ihr eigenes Geld, haben einen Ehepartner, Kinder, ein Auto, ein Haus. Sie haben all das, was es braucht, um glücklich zu sein. Das meine Eltern mit 35 keinesfalls glücklich waren und sich jeden Tag wegen Geld, ihrer Beziehung und anderen Sorgen gestritten haben, hätte mich misstrauisch machen sollen. Aber ich war 15 und hatte meine eigenen Sorgen. Und mit 15 Jahren hätte ich mit Sicherheit nicht gedacht, dass ich mit 35 einmal vor dem gleichen Problem stehen würde, wie damals. Mit 15 habe ich mich gefragt, welchen Beruf ich ausüben möchte, wenn ich Erwachsen bin. Ich wollte Autorin, Gamedesignerin, Synchronsprecherin, Schauspielerin oder Sängerin werden. Überraschung: Ich bin nichts davon geworden. Ich habe nacheinander zwei Ausbildungen abgeschlossen und dann mein Abi nachgeholt, um zu studieren. Nun habe ich zwei Bachelortitel und einen Mastertitel. Und nun? Ich bin wieder an dem Punkt, wo ich bereits mit 15 war. Was willst du werden, wenn du einmal groß bist? Ich habe keine Ahnung. Und wann ist das überhaupt? Wann bin ich groß? Mit 35 fühle ich mich genauso klein und überfordert wie mit 15. Ich gehe nicht mehr zur Arbeit, weil ich Angst vor einem Kollegen habe. Mein 15 jähriges Ich ging nicht mehr zur Schule, weil es Angst vor seinen Mitschülern hatte. Ich führe eine Beziehung, in der oft gestritten wird. Das war genau die Art Beziehung, die meine Eltern meinem 15 jährigen Ich vorgelebt haben. Ich fühle mich einsam, traurig, wütend, unnormal, wertlos, nutzlos und so, als würde ich einfach nicht in diese Gesellschaft passen, wo jeder um mich herum längst seinen passenden Platz gefunden zu haben scheint, während ich immer noch verzweifelt nach ihm suche. Keine Karriere, keine harmonische Beziehung, keine Kinder, kein E-Auto, kein Haus samt Garten, selbst gepflanztem Apfelbaum und Jacuzzi. Ich bin plötzlich wieder da, wo ich schon mit 15 war. Nur 20 Jahre älter. Aber vielleicht finde ich ja meinen Platz in dieser Gesellschaft, wenn ich endlich groß bin.

2025