von Lea Gottwald
„Ich würde am liebsten ertrinken.”
„Ist das nicht eine der schlimmsten Arten zu sterben?“
„Es geht mir dabei nicht um den Tod. Ich stelle es mir schön vor. Ich blende das Sterben einfach aus. Stell dir vor, du tauchst unter Wasser und sinkst immer tiefer in diese blaue Stille, beobachtest die Luftblasen, wie sie langsam zur Oberfläche tänzeln. Die Farben verändern sich, bewegen sich in grünlichen Spektren, werden immer satter. Das Wasser umarmt dich mit einer Wärme, die du das letzte Mal im Mutterleib gespürt hast. Und dann schließt du zum letzten Mal deine Augen.“
„Und du stirbst, ohne zu wissen, dass du stirbst.“
„Ja“, sagte er und zog an seiner Zigarette, an der die Asche drohte, ihm in den Schoß zu fallen. Irgendwie schaffte er es immer, dann doch im richtigen Moment abzuaschen. Ich hasste es, ihn dabei zu beobachten und konnte dennoch nicht wegsehen. Dieses Gefühl, man könne wissen, was im nächsten Moment geschieht und starrt diesem Moment ins gesichtslose Nichts, traut sich nicht zu blinzeln, aus Angst ihn zu verpassen und dann passiert doch nichts. Wie als Kind, als ich dachte, ich hätte irgendeine Art Macht über das, was passiert und das, was passieren wird. Wenn ich mich nur stark genug auf meinen Gedanken konzentriere, wird er Realität. Nur konnte die Realität meine Gedanken nie lesen. Es grenzt an absurde Komik, dass ich mich schon im Kindesalter selbst enttäuscht habe. „Was ist mit dir?“, fragte er mit Rauch in der Lunge und riss mich aus meiner Selbstkritik. Mein inneres Kind dankte ihm. „Ich weiß nicht, Tom. In Frieden sterben ist sicher zu viel verlangt. Und du wirst mir am Sterbebett vorhalten, dass ich dem Leben keinen Tribut gezollt habe. Wie sagst du immer?“ Ich äffte ihn mit tiefer Stimme nach: „Wir haben uns am Leben bereichert und das Leben holt sich sein Reich zurück. Alles muss im Gleichgewicht sein.“
Tom drückte seine Zigarette in einem Kronkorken aus, als wäre es ein Miniatur-Aschenbecher. Entgegen meinen Erwartungen lachte er nicht über mein Necken, nicht mal ein müdes Lächeln, stattdessen schaute er ernst in jede andere Richtung, außer in meine. Noch etwas, das ich hasste. Er hat bestimmt nicht verstanden, was ich meinte. Noch bevor ich an eine erklärende Entschuldigung und entschuldigende Erklärung ansetzen konnte, rutschte er mit einem Schubs von der kleinen Steinmauer, auf der wir beide saßen, klopfte sich die Tabakkrümel von der schwarzen Jeans, griff nach seiner Flasche Bier, sagte: „Ich pack’s mal. Wir sehen uns.“ Und ging. Wie immer. Und wie immer wäre ich am liebsten hinterhergerannt, hätte ihn an der Schulter gepackt und zu mir umgedreht, ihn gefragt, ob er sauer sei, ob ich etwas Dummes gesagt hätte, ob er nicht noch bleiben will, ich kaufe auch die nächste Runde, ich hab’s doch nicht so gemeint, wäre dann selbst sauer geworden, mehr auf mich selbst als auf ihn, hätte ihn deswegen schnippisch angefahren, weshalb er erst recht gegangen wäre und ich bliebe allein zurück, aber hätte wenigstens etwas gesagt. Nur war ich still. Vielleicht besser so. Ich drehte mir noch eine Zigarette und rauchte nur die Hälfte, beobachtete noch einen kurzen Moment, der sich wie eine kleine Ewigkeit anfühlte, das Wasser am Flussufer, das unter mir lag, bis ich schließlich aufstand, mir ebenfalls die Tabakkrümel von der Jeans klopfte, den Mantel bis oben zuknöpfte und mit langsamen Schritten davon stapfte.
© Lea Gottwald 2023-09-01