Wenn jemand ausfällt

Karin Sieder

von Karin Sieder

Story

Wenn in der Schule ein Lehrer ausfällt, ist das nicht so wie in einem Büro, wo die Arbeit eben übrig bleibt. Ein anderer Lehrer muss her. In großen Schulen ist das weniger problematisch, da sich die Stunden des Fehlenden auf viele aufteilen. In unserer kleinen Schule bedeutet das meist ein Riesendrama. Es muss jemand gefunden werden, der die Schüler*innen beaufsichtigen kann. Dann gibt es meist drei Möglichkeiten. Der fehlende Lehrer hat etwas vorbereitet, das man dann auch im Unterricht aufarbeitet. Der fehlende Lehrer hat nichts vorbereitet und man hat die Klasse in einem anderen Gegenstand, dann macht man dort weiter. Der fehlende Lehrer hat nichts vorbereitet und man hat die Klasse sonst auch nirgends, dann macht man meist weniger sinnvolle Dinge wie Mandalas ausmalen oder Konzentrationsübungen oder irgendwelche schnell kopierten Rätsel.

Die zweite Variante mag ich am meisten. Da kann ich den Stoff meiner Gegenstände in einer zusätzlichen Stunde festigen und nochmals üben. Schüler mögen das eher weniger, da es dann schon mal vorkommt, dass sie mich an manchen Tagen bis zu acht Stunden hintereinander sehen. Und davon vier Mathe-Stunden haben.

Die dritte Variante mag ich am allerwenigsten, weil sie meist Tür und Tor für Blödheiten der Schüler öffnet.

Die erste Variante setzt voraus, dass man den Stoff in diesem anderen Gegenstand auch beherrscht. Also auf in die Englischstunde, bewaffnet mit dem Lernstoff für das Passiv in allen Zeiten. Die Kollegin war bei einer unaufschiebbaren Untersuchung im Krankenhaus. Die Gruppe sehr diszipliniert, schreibt den Merkstoff ins Heft und wartet auf meine Übungen. Gemeinsam wird das Arbeitsblatt gelöst, ich bediene mich der fertigen Lösung, die mir auch zur Verfügung gestellt wurde.

Und siehe da, es bleibt noch Zeit am Ende der Stunde übrig. Schnell improvisiert. Ich schreibe einen einfachen Satz an die Tafel: The teacher eats an apple. (Der Lehrer isst einen Apfel.) “Dann setzt doch mal den Satz in alle Zeiten im Aktiv und dann im Passiv.” Ich habe ebenso schnell eine Lösung auf einen Zettel gekritzelt, bei der ich vor allem auf die Bildung des Passivs achtete. Die richtige Zeit. Ein s an der richtigen Stelle. Passt. Ein Schüler sollte mal seine Lösung an die Tafel schreiben.

The teacher is eaten by an apple.

Tadellos die Zeit gebildet. Ich lobe den sonst etwas schusseligen Schüler für seine Lösung. In der zweiten Reihe erhebt sich zaghaft eine Hand. “Aber Frau Lehrerin, das heißt jetzt: Der Lehrer wird von einem Apfel gegessen.”

© Karin Sieder 2020-10-25

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