Wenn sie tanzt

Sandra E. Mae

von Sandra E. Mae

Story

Sie kann nicht mehr. Einsam kauert sie nach der Vorstellung hinter der Bühne, gleich neben der großen Wanduhr, die ihr sagt, dass es zu spät ist, viel zu spät. Stumme Tränen laufen ihr übers Gesicht. Das Make-Up ist verschmiert, das Tutu liegt neben ihr, genauso kaputt wie sie, in viele kleine Stücke zerrissen. Ihre Füße tun weh, doch der Schmerz ist nicht so groß wie jener, den sie in ihrem Innersten spürt, und das nicht erst seit heute. Zitternd zieht sie die Beine an, schlingt die Arme um sich selbst und bettet das Kinn auf die Knie. Wie sehr sie sich doch angestrengt hatte, all die Jahre. Tag für Tag hatte sie sich die Zehen wund getanzt. Hatte versucht, weiterzuatmen, obwohl ihr schon lange die Luft ausgegangen war. Hatte gekämpft, gegen die unsichtbaren Monster, die ihr die Energie raubten; die Monster da draußen und die Monster in ihr. Hatte keine Sekunde lang ihr Schwert niedergelegt, denn aufgeben, das war nie eine Option gewesen. Die Bühne war ihr Traum. Tanzen war ihr Leben. DAS war ihr Leben.

Sie hatte sie erduldet, all die Schikanen, die Demütigungen, die Ausbeutereien. Hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht. War es immer schon böse gewesen? Sie erinnert sich nicht mehr. Nur daran, dass sie es wollte, dass sie es brauchte, das hatte sie schon immer: Die Musik, die Lichter, den Applaus. Diese Augenblicke purer Freiheit, wenn sie da oben stand. Sie war für sich, mit sich. Nur sie, die Musik, ihr Körper und der Tanz, endlos und bedingungslos ineinander verwoben; pure, strahlende Magie, ehrlich, tief und rein, und sie konnte spüren, wie sie jede Faser ihres Seins durchströmte, sie heilte, all die zerstörten, dunklen Flecken ihres Herzens und ihrer Seele. Aber irgendwann spürte sie das nicht mehr. Sie spürt es nicht. Sie spürt gar nichts.

Die Spitzenschuhe hat sie ausgezogen. Wie ein lebloses Stück Fleisch hält sie sie in den Händen, starrt sie an, als könnten sie ihr die Antworten auf all ihre Fragen geben. Diese quälenden Gedanken. Wieso spüre ich nichts mehr? Wieso macht es keine Freude mehr? Bin ich nicht gut genug? Bin ich nicht schön genug? Habe ich mich nicht genug angestrengt? Habe ich mich jemals genug angestrengt? Hätte ich mehr tun sollen, können, müssen? MEHR. Sie hatte immer MEHR gewollt. Und irgendwann überhaupt nicht mehr gewusst, was MEHR überhaupt bedeutet.

Nun sitzt sie da, immer noch allein, immer noch gebrochen, immer noch wund. Und die Uhr tickt, im selben traurigen Rhythmus wie ihr Herz schlägt, ihr krankes, verletztes Herz. Ihr Blick wandert zum Bühnenaufgang, dorthin, wo sie vor jeder Vorstellung sehnsüchtig gewartet hat, bis es endlich so weit war. Vor knapp einer Stunde war sie da noch hinausgegangen, raus auf die Bretter, die ihr die Welt bedeuten, hatte wie gewohnt ihren Seelenstriptease hingelegt und sich all die Kraft aus dem Leib getanzt, die sie noch besaß.

Jetzt besitzt sie gar nichts mehr, außer ein zerfetztes Tutu, die Spitzenschuhe, und die Erinnerung an einen längst vergessenen Traum.

© Sandra E. Mae 2021-03-06

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