Wenn Verstand ihren Verstand verliert

Luisa Kaspar

von Luisa Kaspar

Story

Verstand lebte nach ihrem kurzen Glücksmoment auf dem Schulhof erstmal ein trauriges Dasein. Nachdem ihre Eltern sie wegen genau dieses Momentes so fertig gemacht hatten, traute sie sich nicht mehr ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Für eine Weile fühlte sie sich noch verzweifelt deswegen und erkannte, dass die meisten Menschen um sie herum nicht wirklich glücklich wirkten. Doch diese waren so stark in dem Massenprinzip festgefahren, dass sich ihr Unglück als Glück ausgab.

Ihr wurde auch verboten mit Hoffnung Kontakt zu haben. Also musste sie von einer Ferne mit ansehen, wie er sich immer mehr zurückzog und nach einer Weile nur noch traurig wirkte. Sein ständiges allein sein und die Abweisungen der Leute um ihn herum fing an ernsthafte Auswirkungen auf ihn zu haben. Er konnte sich nicht mal an die Lehrer der Schule für Hilfe wenden. Diese durften ihn zwar vom Gesetz her nicht vernachlässigen und anders behandeln, waren jedoch insgeheim froh, wenn sie sich nicht mit ihm beschäftigen mussten. Es brach Verstand das Herz ihn so zu sehen. Wie konnte der einst glücklichste und selbstsicherste Mensch, den sie kannte, so traurig werden?

Doch je länger Verstand ohne Hoffnung lebte, desto abgehärteter und gefühlloser wurde sie. Da ihr vor der Interaktion mit Hoffnung nie bewusst war, dass sie frei leben wollte und ihr das Gefühl Hoffnung zu haben fehlte, hatte sie auch noch nie zuvor das Gefühl von Verlust verspürt. Doch das Wissen, dass es ihr nicht erlaubt war diese Emotionen zu haben und sie diese nicht ausleben durfte war so schmerzhaft für sie, dass Verstand sich schwor nie wieder echte Gefühle zu fühlen und ihr bisheriges Leben weiterzuführen. So blieb ihr dieser Kummer ab sofort erspart.

Irgendwann hatte Verstand Hoffnung vergessen und auch den kurzen Moment mit ihm komplett verdrängt. Ihre Eltern waren begeistert von ihr und konnten nicht aufhören sie mit Lob zu überschütten. Nach einer Weile lebte sie auch wieder in dem Glauben glücklich zu sein und keine Fehler in dem Massenprinzip zu sehen.

Als Erwachsene hatte sie jedoch einen Moment, welcher ihre bisherige Lebensweise infrage stellte. Sie war auf der Arbeit fertig und machte sich auf den Heimweg. Auf ungefähr halber Strecke kam sie an einem Spielplatz vorbei und sah einen kleinen Jungen einsam in einer Ecke stehen. Sie wunderte sich, warum er nicht mit anderen Kindern spielte. Dann schaute sie sich etwas genauer um und bemerkte, dass diese den Jungen verstohlen anstarrten und heimlich über ihn redeten. Sie verstand nicht den Grund deswegen und sah den kleinen Jungen nochmals an. Erst da fiel ihr auf, dass jener bunte Schuhe trug und seine Kleidung nicht mit den einheitlichen der anderen Kinder überein stimmte. Wahrscheinlich hatten die Eltern dieser Kinder ihnen verboten mit ihm zu kommunizieren.

Da Verstand jedoch nichts an dieser Situationen ändern konnte, ging sie, ohne groß darüber nachzudenken, weiter. Doch je näher sie ihrem Zuhause kam, desto unwohler fühlte sie sich. Sie hatte das Gefühl, dass etwas anfing in ihr zu brodeln und zur Oberfläche kommen wollte. Sie wusste nur noch nicht was es sein konnte.

© Luisa Kaspar 2023-09-03

Genres
Romane & Erzählungen