Wer bin ich und wer bist du?

Olivia

von Olivia

Story

Sie sind die erste Person, die mich anspricht, mit einem verschmitzten LĂ€cheln um Ihre Lippen lassen Sie mich wissen, dass ich die einzige bin die es in den Raum geschafft hĂ€tte. Verwirrt lĂ€chle ich zurĂŒck und stĂŒtze meine Arme auf dem wackeligen Tisch vor mir ab. Sie wenden sich gelassen zur TĂŒr und lassen die davor wartende Meute hinein, die sich gleich darauf auf die restlichen StĂŒhle verteilt. Unruhe geht durch den Raum, nervös blicke ich in unbekannte Gesichter, zupfe an meinem sommerlichen Jumpsuit herum bis sich unsere Blicke treffen.

Sie wirken wie die Ruhe selbst, schenken mir ein verstĂ€ndnisvolles LĂ€cheln und rĂ€uspern sich. Niemand reagiert und Sie lassen die Mappe in Ihren HĂ€nden gerĂ€uschvoll auf den Tisch knallen. Es ist mucksmĂ€uschenstill, alle, wie ich spĂ€ter erfahren werde, 34 Augenpaare sind auf Sie gerichtet und warten gespannt darauf, dass Sie sich ganz klassisch vorstellen. Doch ich werde schnell lernen, dass vorhersehbares, klassisches und den UmstĂ€nden entsprechendes Verhalten bei Ihnen nicht zu finden sind. Statt einer Vorstellung Ihrer selbst erhalten wir den Hinweis uns jederzeit, ich zitiere, „verzupfen“ zu können. Sie strahlen eine mir bis dahin nicht bekannte AutoritĂ€t, Selbstbeherrschung und Lebenserfahrung aus, nichts scheint Sie erschĂŒttern zu können und trotzdem bin ich nicht ganz sicher, wen ich da vor mir stehen habe.

In den nĂ€chsten Wochen und Monaten verbringe ich viel Zeit dabei, Ihren Geschichten zu lauschen. Wirtschaftliche ZusammenhĂ€nge erklĂ€ren Sie nicht anhand von bekannten, örtlichen Unternehmen und Banken, sondern bedienen sich an dem Konstrukt des Rotlichtmilieus, der GeldwĂ€scherei, der Mafia und Ă€hnlichen Parallelwelten. ZunĂ€chst noch schockiert und zweifelnd lerne ich Ihre sonderbaren Wege Wissen zu vermitteln, zu schĂ€tzen. Vor allem Ihren Humor kann ich sehr gut teilen und lache oftmals TrĂ€nen, die Sie zufrieden wahrnehmen. Jedes Mal, wenn Sie Ihre Geschichten erzĂ€hlen, lĂ€sst mich das seltsame GefĂŒhl nicht los, dass Sie eben diese selbst erlebt haben. Doch diese Annahme verneinen Sie streng und nennen keine Namen. Ihre einzige Antwort, die ich ĂŒber die Jahre immer wieder amĂŒsiert zu hören bekomme, ist: „Nichts davon ist mir bekannt, alles hat sich zu einer anderen Zeit an einem unbekannten Ort abgespielt“. Handlungen in Kriegsgebieten, Hochzeiten in den Bergen Italiens die von MaschinengewĂ€hren bewacht wurden bis hin zu Dialogen innerhalb eines Bordells. Bei jeder Ihrer ErzĂ€hlungen tauche ich in die Geschichte ab und nehme all die kleinen Details wahr, die Sie teils bewusst, teils beilĂ€ufig erwĂ€hnen. Ich denke nur, es ist keine Geschichte, es ist Ihr Erlebtes.

Inzwischen sind fast vier Jahre seit unserer ersten Begegnung vergangen und von einem Tag auf den anderen erhalte ich die Nachricht, dass Sie verstorben sind. Ich weiß, wer ich war. Ihre SchĂŒlerin. Aber wer waren Sie und vor allem wer sind Sie jetzt?

In ewig fortwÀhrendem Respekt, I.

© Olivia 2022-08-12

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