Wer lügt schon nicht?

Yasmin Jöhl

von Yasmin Jöhl

Story

Lügen ist menschlich. Wie beruhigend. Zumindest ein bisschen. Das soll keine Entschuldigung sein, für all die Lügengeschichten, die wir Menschen täglich auf den Tisch knallen. Dazu zählt auch Yasmin. Magersucht sowieso. Bei Yasmin ist es der zwanghafte Drang nach Kontrolle, der dazu führt, dass sie des Öfteren zu Lügen greift. Greifen muss, denn nach wie vor hat Magersucht die Fäden in der Hand. Angefangen bei harmlosen Flunkereien bis hin zu verzwickten Lügengeschichten. Während man ihr früher die kleinste Lüge zehn Kilometer gegen den Wind ansehen konnte, kommen ihr die Ausreden heute wie automatisch über die Lippen. Magersucht legt Yasmin sämtliche Lügengeschichten in den Mund, die sie dann auch noch meisterhaft vorbringt. Yasmin mausert sich zu einem echten Profi in Sachen Geheimhaltungsstrategien. Als wäre Yasmin eine begnadete Schauspielerin. Und Magersucht ihre Regisseurin.

Punkt Nummer eins der Lügengeschichte-Hitliste belegt – wie könnte es auch anders sein – das Essen. Nein, danke, ich habe keinen Hunger. Ich habe vor vier Stunden zwei Reiswaffeln gegessen. Doch Lügen sind für Magersucht noch nicht das Ende der Fahnenstange. Es darf nicht nur bei Worten bleiben. Yasmin muss handeln, um ihre Lügen zu unterstreichen. Auch hier ist es dieselbe Leier: Sie möchte eigentlich nicht. Aber sie muss. Eigentlich passt das nicht zu ihrem Naturell. Aber sie muss. Weil Magersucht es sagt.

Fällt das Wort Schummeln, so wird Yasmin unweigerlich in ihre Zeit im Spital zurückversetzt. Damals, vor 16 Jahren. Ihr kommt es vor, als wäre es gestern gewesen. Betrügereien und heimtückisches Hintergehen stehen an der Tagesordnung. Sobald das Mittagessen vor ihrer Nase steht, denkt sie gar nicht daran, dieses zu essen. Stattdessen wickelt Yasmin es in Servietten und lässt es im Abfalleimer verschwinden. Logisch, dass diese Taktik nicht lange unbemerkt bleibt. Sie schliesst sich im Badezimmer ein und joggt gefühlt stundenlang auf der Stelle. Anstatt den Lift zu benützen, läuft sie tausendmal die Treppen hinauf und hinunter. Doch am schlimmsten auszuhalten, ist die Magensonde, mit der sie künstlich ernährt wird – weil, oh Wunder, das Gewicht nicht wie indiziert rauf-, sondern runtergeht. Diese Astronautenkost will und kann sie nicht in ihrem Bauch haben. So hantiert sie des Öfteren an der Maschine herum und lässt das vermeintlich Wohlwollende in den Tiefen der Toilette verschwinden.

Yasmin nimmt sich diese Rechte hinaus. Sie darf. Schliesslich wird sie von niemandem verstanden. Niemand will sie verstehen. Nur Magersucht versteht sie. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie auch auf Magersucht hört. Mittlerweile gehören Betrügen und Tricksen bereits so zu Yasmins Paradedisziplin, dass sie gar keinen anderen Gedanken mehr fassen kann. Es ist kein Platz für Freunde und Familie. Für Freude und Genuss schon gar nicht. Ausserdem muss sie sich dadurch nicht mit den Problemen befassen, die ihrer Magersucht zugrunde liegen. Wow, so schön einfach kann es sein. Yasmin weiss, dass sie sich eigentlich nur selbst belügt. Klar. Sie ist ja nicht blöd. Doch Magersucht ist es genauso wenig.

© Yasmin Jöhl 2024-08-29

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