Wer schweigt, ist Spion

Markus Schwaiger

von Markus Schwaiger

Story

Treffen sich ein Kasache und ein Österreicher im Zug. Der eine kommt aus einem Land mit einer Regierung, die ihre korrupten Eskapaden zwar nicht mehr vorm Volk verbergen kann, sich aber in der Gewissheit wiegt, dass den Menschen der Mut und der Wille zur Auflehnung fehlen. Und der andere kommt aus Kasachstan und wollte genau dem entfliehen.

Als ich das Schlafabteil des Nachtzuges betrete, sitzt der Kasache unten am Fenster und seine zwei Söhne im Alter zwischen 8 und 12 liegen in den beiden Betten ganz oben. An seiner überaus freundlichen, deutschen Begrüßung bemerke ich sofort einen Akzent. Russisch. Ohne Zweifel. Das erkenne ich immer und überall. Ich wechsle die Sprache und frage ihn arglos auf Russisch, woher er kommt. Er stockt, wirkt wie eingefroren. Die beiden Söhne lugen über die Bettkante herunter. Der Vater schiebt seine Brille zurecht, räuspert sich und stellt mir eine Gegenfrage. Warum ich Russisch sprechen könne, will er wissen und seine Stimme vibriert dabei vor Verblüffung.

In 9 von 10 Fällen reagieren russischsprachige Menschen mit heller Begeisterung auf jedes unerwartete Wort eines Fremden in ihrer Muttersprache. Skeptisch schauen sie zwar oft drein, aber es ist fast immer eine freudige Skepsis. Der Verlauf dieser gerade entstehenden Unterhaltung scheint mir daher ungewöhnlich. Ich versuche sein rätselndes Gesicht zu entwirren und offenbare ihm meine Vergangenheit an russischen Universitäten. Als hätte ich etwas Wichtiges vergessen, straft er meine Erklärung mit Schweigen.

Im Rahmen eines Wettbewerbs besuchte ich einmal mit Freunden aus Russland die russische Botschaft in Indonesien. Während meine ambitionierten Gefährten schwitzend ihre politischen Fragen den todernsten Mienen der russischen Botschaftsmitarbeiter stellten, war ich mangels ausreichender Russischkenntnisse bemüht, einzelne Worte aus dem Fremdsprachenrauschen herauszufiltern. Beim Verlassen der Botschaft ging ich als letzter aus dem mit Putinportraits beschwerten Raum, hinter mir marschierte nur noch der murmelnde Diplomat. Wie hätte ich wissen sollen, dass sein Gemurmel eine Frage an mich war? “Кто молчит, тот шпион“, warf der Diplomat dann hörbar hinterher. Auch das vermochte ich nicht zu dechiffrieren. Draußen tadelten mich meine erröteten Freunde und übersetzten seine letzten Worte für mich: Wer schweigt, ist Spion.

Der kasachische Vater verschränkt die Arme und beendet sein Schweigen mit einem mageren “Interessant”. Aber wie ich heiße, habe ich ihm noch immer nicht verraten, meint er zaghaft. Ups. Entschuldigung, diese Frage habe ich dann wohl überhört. Als Markus gebe ich mich zu erkennen und wir schütteln uns die Hände. Kein russischer Name, seine finstere Miene lichtet sich langsam und er beginnt zu erzählen: Wie er gemeinsam mit seiner Frau der Heimat den Rücken kehrte, wie er eine hoch bezahlte Stelle in der deutschen IT-Branche fand, wie stolz er auf seine zweisprachigen Kinder ist.

© Markus Schwaiger 2021-04-08

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