von Lisa Fröch
Als ich am 1. März frühmorgens meine Augen öffne, scheint mir die Sonne ins Gesicht. Ich höre den Gesang der Vögel, ein leises Knistern aus der Küche. Aufgeregt strecke ich meine Arme aus, mache meinen Körper lang und gähne laut. Meine letzte Nacht in meinem warmen, kuscheligen Bett im Haus meiner Familie. Wenn ich heute hinausgehe, verlasse ich das Dorf für ein ganzes Jahr und komme als erwachsene Frau zurück. Erwachsen. Was das wohl zu bedeuten hat?
Wenig später trete ich nach draußen, am Rücken meinen Rucksack mit dem nötigsten Gepäck. Meine Eltern drücken mich, meine große Schwester gibt mir einen Kuss auf die Stirn, meine kleine drückt mir eine Zeichnung in die Hand. Wir zwei, wie wir unten am Fluss nach Krebsen suchen. Eine Träne rinnt entlang meiner Wange hinab. Meine Mutter fängt sie auf, verstreicht sie mit ihrem Finger und hält ihre Stirn an meine. „Schließe deine Augen, meine Kleine. Für einen Moment“, flüstert sie. Ich schließe sie und warte. Es ist still, niemand sagt etwas. Doch da ist etwas anderes: unser Atem. Er ist laut, wird stärker, die Luft strömt in meine Brust und füllt meinen Bauch. Sie ist kalt und zugleich bricht ein loderndes Feuer in mir aus.
Es ist soweit. Wochenlang litt ich unter Ängsten und Sorgen. Ob ich es je wäre. Doch jetzt weiß ich es: ich bin es. Ich bin bereit. Lächelnd öffne ich meine Augen wieder. Ich nicke, gebe meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, verabschiede mich von allen, drehe mich um und gehe weg. Denn heute gehe ich, Sia, auf meine eigene Reise. Alleine und ohne Begleitung werde ich für ein Jahr die Welt bereisen und das tun, was alle bereits vor mir taten. Das, was alle in unserem Dorf machen, wenn sie erwachsen werden. Das, was uns zu dem macht, was wir sind: Menschen.
Als ich mich ein letztes Mal umdrehe, ist das Haus meiner Familie geschrumpft und ich erkenne nur noch winkende Hände, drei erwachsene Menschen und ein Kind. Meine kleine Schwester. In ein paar Jahren wird sie auch soweit sein und das gleiche, wie ich erleben. Meine große Schwester hat es bereits gemacht und sie will es wieder machen. Die Welt bereisen, unterschiedliche Kulturen kennenlernen, Abenteuer erleben, sich selbst kennenlernen, das Leben und die Natur genießen. Ich spüre das Kribbeln in meinem Bauch, meine Neugier und Ungeduld. Doch dann bleibe ich stehen, kurz vor einer Abzweigung. Hmm… Welchen Weg wähle ich?
Nachdenklich hole ich meine Landkarte aus dem Rucksack, setze mich in die Wiese vor der Abzweigung und öffne sie. Ein zusammengefalteter Zettel liegt vor mir, darauf in der Schrift meiner großen Schwester: „Denk daran: Wer sich selbst sucht, findet nichts!“ Ich lache laut los, lege den Zettel kopfschüttelnd zur Seite und schlage die Karte auf. Minuten später bin ich mir sicher: Das ist der richtige Weg!
© Lisa Fröch 2025-02-19