von Oliver Fahn
Kind, trau dich her. Du bist irritiert? Der Stetson hüllt mein Gesicht bis zur Nasenspitze in graue Schatten. Deinem Vater kannst du bestellen: Ein Streuner bin ich nur vorübergehend. Kind, würdest du mich ohne Hut erkennen? Komm näher, ich beiße nicht. Keine Bande sitzt mir im Nacken, die auf Geld drängt, das ich Passanten aus der Tasche ziehe. Einnahmen bis jetzt: Null Cent! Mein Bart stoppelt in unregelmäßigen Inseln auf meinen Wangen, von Wasser und Seife halte ich mich seit Tagen abstinent. Niemand soll ahnen, wer ich bin. Mein Name wird dir ohnehin nichts sagen.
Kind, so reiß dich von der Hand deines Vaters. Wirf deine Mark, die du in der anderen Faust krampfst, in meine verbeulte Blechbüchse. Widersetz dich deinem Vater! Tritt hin vor meine überschlagenen Beine. Dein Blick schweift. Von mir zu ihm, wieder zurück. Du bist entschlossen es zu tun, also löse dich von seinen Anweisungen. Schmeiß ein. Folge dem Wunsch deiner Gedanken. Kind, riskier was! Zurufen geht nicht, dein Vater würde mich an meiner Stimme erkennen. Nimm die Münze, pfeffere sie in meine Box. Kind, nichts klimpert, sie ist eigens für dich mit Watte ausstaffiert. In zwei Sätzen hast du dich auf mich zubewegt, bald gehe ich. Bleib da, spring nicht nach hinten.
Just im Moment kann Großes erwachsen, wenn du es wagst. Sei nicht knausrig. Hast du gewusst, dass Pfingsten ist? Deine Chance. Nutze sie. Leg das Geldstück hinein. Ich habe was auf Vorrat. Einen Joker. Wenn du es tust, spiele ich ihn aus. Niemand am Platz weiß, worum es geht. Für den augenscheinlich Obdachlosen in löchrigen Jeans mit abgelederter Jacke haben die Fußgänger bloß ächtende, sogleich abgewandte Blicke übrig. Wenn ich mein Geheimnis lüften darf, da du den letzten Schritt tust, werde ich mit einem guten Gefühl heimgehen.
Oh. Dein Vater staunt. Sein Mund steht offen. Es zieht. Kind, du kommst noch näher, fabelhaft. Ich singe. Ich singe für dich. Dein Euro fällt. Ich singe für dich allein. Ich rücke meinen Stetson gegen den Hinterkopf. Scharenweise Menschen, die mich erkennen, applaudieren und folglich die Box mit Scheinen überhäufen. Die ersten Zeilen meines Liedes lassen mich von einer Rede über das soziale Projekt absehen. Sie sprechen eine deutlichere Sprache als jedes Referat.
Ich spüre den Kick. Meine Augen halte ich geschlossen, ersticke fast am Puls, der bei jedem Schlag in meiner Kehle pocht. Kann ich meine Stimme festigen? Ausgelöst von deiner ersten Münze innerhalb der vergangenen drei Stunden anonymen Bettelns stehe ich auf und singe. Welch ein Geschenk! Dein Vater liebkost dich. Dein Einsatz hat sich gelohnt!
Dein Bild in den Spätnachrichten / Wimmernder, sterbender Soldat / Eine Zahl in den Kriegsberichten / Ein Rädchen im Kriegsapparat
Als ich mitten im Lied abbreche, herzt mich dein Vater mit dankenden Umarmungen. Ich bin atemloser als zuvor. Ungeachtet des Zustroms der Menschen, die spenden und denen ich “Alle Soldaten woll’n nach Haus” singen soll, belagert er mich. Ach Kind!
© Oliver Fahn 2022-06-06