Wer unterrichtet hier wen?

Michael Pommer

von Michael Pommer

Story

„Gong“. 15 Uhr. Zeit für salzigen Buttertee. Hierzulande zählt er zu den Grundnahrungsmitteln und daran führt leider kein Weg vorbei. Wirklich schmecken tut er immer noch nicht, doch kehrt Gewohnheit ein. Außerdem trägt er so seines dazu bei, dass ich besser im Moment lebe. Jeder Schluck und die damit verbundene Reaktion meiner Geschmacksrezeptoren verdrängt sämtliche Gedanken, die vielleicht gerade so in mir herumschwirren.

Zehn Minuten später steht der Unterricht mit den Kleinen am Programm. Der erste für die zwei neuen Volontäre Cara und Nina, die gestern kamen. Beide 19 Jahre alt und in ihrem „Gap-Year“. Beim Frühstück hatte ich ihnen angeboten, die Kids entweder in zwei Gruppen zu teilen – oder wir unterrichten gemeinsam. Sie entschieden sich für ersteres und so mache ich aus einer großen Gruppe voller Banausen zwei kleine Gruppen voller Banausen. Ich verschwinde mit meinem Teil in einem Klassenzimmer und überlasse Cara und Nina den üblichen Unterrichtsbereich im Freien. „Falls irgendetwas vorfällt und ich helfen kann, kommt gern zu mir“, verabschiede ich mich. „Wir schaffen das schon!“, entgegnen sie zuversichtlich.

Wir kommen ins leere Klassenzimmer. Einzig ein altes Whiteboard schmückt die Wände und nebenan hängt noch ein kleines Regal mit religiösen Artefakten. Mehr nicht. Keine Sessel, keine Tische.

Zeit, einen Sitzkreis am Boden zu bilden und loszulegen. Mittlerweile formen die Kids diesen bereits nach der siebten Bitte. Und nach dem vierten „Pssssst“ hören sie mir heute auch schon zu. Am Programm steht: Addition. Wir beginnen mit einfachen Übungen und schlagen uns alle wacker. Einzig die Tatsache, dass die Anzahl der Finger beschränkt ist, stellt die Kids anfangs vor Probleme. So oft Sherap es auch versucht, nach zehn Fingern ist leider Schluss. So kommt sie einfach auf keine Lösung, als die Frage „8 + 9 = ?“ lautet.

Doch dann hat sie eine Idee. Nein, sie beginnt bei zehn nicht wieder von vorne. Viel einfacher noch: Sie schnappt sich zusätzlich Sangeys Hände. Und gemeinsam schaffen sie es dann.

Nach gut einer Stunde klopft es an der Tür und Cara tritt ein. Kurz scheint sie über das halbwegs gesunde Klima etwas verwundert und dann stottert sie: „Die Kleinen … ehh … Bitte hilf uns!“ „Geht klar!“ Mit einem „Let’s go, everyone!“ wende ich mich an die Nonnen und wir begeben uns Richtung Volontärsgelände. Am Weg fragt Cara: „ Wie machst du das? Die Kleinen hören ja wirklich auf dich. Sie scheinen dich echt zu brauchen.“

„Hmm … Das stimmt so nicht ganz“, erkläre ich ihr. „Deine Wahrnehmung trügt dich. Sie brauchen mich nicht. Ganz und gar nicht. Sie kommen auch ohne mich klar. Das ist auch wichtig so, denn auch ich werde nicht ewig hier sein. In Wirklichkeit aber war ich der, der sie gebraucht hat. Durch sie hab ich meinen eigenen Wert wiedererkannt. Und als Draufgabe bin ich auch noch deren Freund geworden. Jetzt versuche ich mich einfach ein wenig zu revanchieren. “

© Michael Pommer 2021-05-12