von Vanessa Hillen
»Wenn wir hier heruntergehen, kommen wir dort raus, oder?«, fragst du und deutest auf einen Feldweg. »Ja, genau«, sage ich überrascht und überlege, ob wir schonmal gemeinsam hier spazieren waren. »Tja, ich bin schon viel rumgekommen«, du zwinkerst mir zu. »Offensichtlich«, erwidere ich und stoße dich kichernd ein Stück zur Seite.
Ich richte meinen Kopf zu den Bäumen auf der anderen Seite. Mit wem bist du wohl schonmal hier gewesen? Und warum? Ich brauche nicht lange zu rätseln, bevor du mich aufklärst: »Kennst du Lara? Sie müsste so alt sein wie du. Ich habe mich ein paar mal mit ihr getroffen, einmal waren wir auch hier spazieren«, du zuckst mit den Schultern, um die Geschichte möglichst beiläufig wirken zu lassen. »Ah, okay.«
Dein kurzes Auflachen verrät mir, dass du noch mehr zu dieser Geschichte zu erzählen hast. Mit gehobenen Augenbrauen schaue ich dich an. »Ich habe sie letztens nochmal gesehen, als ich in der Kneipe war. An dem Abend war Julius auch. Da hat er mir erzählt, dass seine Nachbarin wieder Single ist«, führst du aus. »Und die Nachbarin findest du auch gut?«, hake ich nach. »Machst du Witze?«, fragst du und siehst ein bisschen fassungslos aus. »Sie ist eine Granate. Ich hatte es schon bei ihr versucht, bevor sie mit ihrem Freund zusammen kam. Dann hat das nicht geklappt und ich kam mit Anna zusammen.«
Ich nicke nur. Warum führst du diese beiden Geschichten so aus? Über die Antwort bin ich mir sehr unsicher. Noch unsicherer bin ich allerdings, ob ich die Antwort auf meine nächste Frage wirklich wissen will. »Hört sich fast so an, als kamst du nur mit Anna zusammen, weil du die Nachbarin nicht haben konntest«, führe ich langsam aus. Dein Blick schießt zu mir. Du siehst nicht wirklich erschrocken aus. Peinlich berührt wäre eine bessere Beschreibung. »Was soll ich jetzt sagen?«, fragst du und lachst verlegen.
Ich bleibe stehen und starre dir in die Augen. »Das war wirklich der Grund?«, muss ich noch einmal fragen. Du antwortest nicht, sondern gehst langsam weiter. Ich folge dir, ohne meinen Blick von dir zu lösen. »Denkst du jetzt schlecht über mich?«, fragst du. Ich lasse mir deine Frage kurz durch den Kopf gehen. »Es sagt ganz schön viel über dich und deine Werte aus«, sage ich schließlich. »Das sagt doch nicht viel über meine Werte. Manchmal macht man eben dumme Sachen. Jedenfalls habe ich überlegt, ob ich ihr jetzt schreiben soll.«
Ich richte meinen Blick wieder auf den Weg und nicke nur. Am Rande nehme ich wahr, wie du deine Argumente aufzählst. Aber das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann ist die Frage, warum du mir das alles erzählst… Weil Freunde sich eben solche Dinge erzählen; zu diesem Ergebnis komme ich schnell. Die eigentliche Frage, die ich mir stellen muss, ist, warum macht es mir so viel aus, dass du mir von den anderen Frauen erzählst? Was bist du für mich? Ein Freund? Oder ist da mehr? Wie kannst du für mich nur ein Freund sein, wenn mir diese Aussagen so viel ausmachen?
Ich richte meinen Blick wieder auf dich und zum ersten Mal bekomme ich Angst. Angst davor, früher oder später sehr verletzt zu werden.
© Vanessa Hillen 2023-07-16